„Das Turiner Pferd“ von Béla Tarr


Foto: Vega Film

Verzweiflung und Tristesse

Dem Landleben unterstellt man aus der Distanz, also in der Großstadt, stets ein gewisses Ambiente: möbilierte Natur als Balsam für die Seele U-Bahngeschädigter. Ein paar Strohblumen hier, ein Apfelkuchen da, lachende Kinder und anmutige Pferdchen. Das Landleben ist ein Genre geworden und wie jedes Genre verspricht auch dieses dem Unheil aus Überarbeitung, Monotonie und dem Entsetzen vor der Wirklichkeit zu entgehen. Es lebt davon, der Verzweiflung und Tristesse etwas Feistes, Menschelndes entgegenzusetzen und macht paradoxerweise die Urbanität zu einem Naturereignis, dem man nicht wirklich beikommen kann – außer vielleicht mit bewusstloser Sprachnot und niedlicher Bodenständigkeit.

Béla Tarrs „Das Turiner Pferd“ spielt mit dieser Sehnsucht und es gelingt diesem Film das Kunststück, gleichzeitig die Wunschprojektion des Landlebens komplett zu zertrümmern und  dabei aufzuzeigen, wie wenig wir uns doch in unserem alltäglichen Verhalten in den letzten 120 Jahren geändert haben. Ein wenig Lokalkolorit: Der Gaul trabt langsam vor sich her. Der Kutscher gibt ihm hier und da die Peitsche. Orkanartige Windböen liefern sich ein Duett mit bleischwerer klassischer Musik. Beim nächsten Schnitt erwartet der Zuschauer Aasgeier und Leichenberge vorzufinden, doch stattdessen steuert das Wägelchen mit dem mehr als klapprigen Gaul auf einen Bauernhof zu. Ein Mädchen öffnet die Tür und führt mit dem Kutscher zusammen den Gaul und den Wagen zurück in den Schuppen. Danach gehen sie hinein und essen Kartoffeln. Während des Kochens lauscht der Kutscher dem Wind und starrt anschließend aus dem Fenster. Während des Essens wird nicht gesprochen. Nach dem Essen wird geschlafen. Diese Abfolge an banalen, nichtigen Ereignissen wiederholen sich nun Tag für Tag. Mal liegt der Fokus mehr bei dem Kutscher, mal mehr bei der Tochter, mal gibt er beiden Raum. Auf über zwei Stunden ausgedehnt wird der Zuschauer vor allem mit einem konfrontiert – der Monotonie des Alltags. Sie ist die einzige Komponente, die dem Zuschauer Identifikation mit den ansonsten fast sprachlosen Darstellern zusichert. Zugegeben, man selbst schaut nicht aus dem Fenster, sondern in die Röhre.

Ob die Röhre nun eine Fernbedienung oder eine Tastatur besitzt, spielt keine Rolle. Das einzige, was sich geändert hat, ist der Filter. Vor 120 Jahren genügte eine Glasscheibe. Heute sollten es schon diverse Programmformate, Web 2.0-Portale und Apps sein. Unabdingbar und kaum verändert ist jedoch das moralische Urteil über die eigene Umwelt. Sie ist feindselig und barbarisch. Der Gute ist dabei stets der Betrachtende, nie der Betrachtete. Eine freiwillige Quarantäne. Wir nennen es Unterhaltung, sie nannten es Trost. Wir hören Droneambient oder Dronemetal. Sie hörten den säuselnden Wind. Bekommt der Kutscher doch einmal Besuch, so will er ihn so schnell wie möglich loswerden. Kaum aushaltbar ist ihm die Begegnung mit dem Fremden, hier verkörpert durch ein paar stereotype Zigeuner. So gesellt sich für eine Einstellung noch eine dritte strukturelle Iteration dazu, nämlich die der politischen Realität Ungarns. Die überschaubare Anwesenheit zuhandener Dinge wird hier als spannungsarmer Alptraum erzählt und so stark der Wind auch wehen mag, bewegen tun sich die Bäume in diesem Film so gut wie nie.

Joris J.

„Das Turiner Pferd“ Regie: Béla Tarr, Darsteller: Volker Spengler, János Derzsi, Erika Bók, Mihály Kormos, Kinostart: 15. März