Filmtipp: „Ich reise allein“


Lotte und Jarle

Lotte und Jarle

Dem norwegischen Regisseur Stian Kristiansen gelingt aus einer beinahe stereotypisch banalen Exposition heraus eine erfrischende und vor allem wirklich amüsante Familien-Komödie. Ein Brief ist es, der die Welt des Literaturwissenschafts-Studenten Jarle Klepp (Rolf Kristian Larsen), wie eine heftiger Haken in die Magengrube einen Boxers erschüttert. Dieser verkündet, dass ihn in nur drei Tagen seine sechsjährige Tochter Charlotte Isabel Hansen (Amina Elonora Bergrem) besuchen wird – eine Tochter, von deren Existenz er bis dato keinen Schimmer hatte. Weder an die Mutter, die dem Kind diesen, wie er findet, kleinbürgerlichen Namen verpasst hat, noch an den gemeinsamen One-Night-Stand vermag er sich erinnern. Diese Katastrophe, die natürlich keine ist, bricht über Jarles Welt hinein, in der er es bisher vornehmlich um Frauen, Alkohol, Kippen und sein literarisches Idol Proust ging. Jarle rauscht von einer Party zur nächsten, wechselt die Frauen und genießt die Bewunderung seiner Freunde, genau wie die Unterstützung seines Professors. Kinder passen einfach nicht in diesen, seinen Mikro-Kosmos. Er beschließt die Tage mit kleinstmöglicher Zuwendung für den Eindringling zu überstehen.

Der dramaturgische Verlauf der 94 Minuten scheint vorgezeichnet und von stimmiger Indiemucke aus den 90ern getrieben, und doch gelingt es Kristiansen dem recht austauschbaren Stoff Einiges abzugewinnen. Mehr noch, ihm gelingen Überraschungen. Basis dafür sind präzise gezeichnete Figuren, die trotz der Umstände keine 180-Grad-Drehungen vollziehen, sondern konsequent zu Ende erzählt werden. Ja, das Aufeinandertreffen von Jarle und Lotte, wie der Vater seine Tochter nennen soll, dreht diesen nicht komplett um. Er lässt sich weiter vom Leben treiben und scheitert mindestens ebenso oft, wie er seine Aufgaben meistert. Kristiansens Trumpf sind die starken darstellerischen Leistungen seiner beiden Protagonisten, aber die Nebenrollen, die allesamt zu überzeugen wissen. Vor allem die junge Amina Eleonora Bergrem überrascht mit ihrem sehr reifen, vielfältigem Spiel. Dazu fängt Kristiansen präzise den Zeitgeist der 90er-Jahre ein, in welchen der Norweger seine kleine Komödie ansiedelt. Statt dramatische Momente zwanghaft mit abgelutschten Instrumentalsongpassagen zu überschwemmen, gelingt ihm eine ansprechende Musikwahl, die das Seelenleben seiner Protagonisten beschreibt.

Denis Demmerle

Ich reise allein„, Regie: Stian Kristiansen, 94 min., Norwegen, 2011; mit Rolf Kristian Larsen, Amina Eleonora Bergrem, Kinostart: 29. Dezember