FORMEN MODERNER ERSCHÖPFUNG von Sascha Hilpert


FORMEN MODERNER ERSCHÖPFUNG © Corso Filmproduktion
FORMEN MODERNER ERSCHÖPFUNG © Corso Filmproduktion

Seelenkur im Sanatorium

Sie gelten als typische Erkrankungen unserer hektischen Gegenwart: Burn-out und Depressionen. Doch Erschöpfung plagte die Menschen schon vor über 100 Jahren – und schon damals kamen diejenigen, die die Möglichkeit dazu hatten, ins Sanatorium Dr. Barner im Harz, um sich in der Abgeschiedenheit der Gegend um Braunlage neu aufzustellen. Nina (Birgit Unterweger), Managerin in einer Hamburger Werbeagentur, und Sozialarbeiter Henri (Rafael Stachowiak), der eigentlich Opernsänger werden wollte, hat es gemeinsam mit wenigen anderen Patient*innen zur Winterzeit in die Privatklinik verschlagen, wo sie zwischen Gesprächs-, Kunst- und Tanztherapie, Yoga und Schwimmen, Spaziergängen im verschneiten Wald und vorsichtigen Kontaktaufnahmen im Speisesaal versuchen, Kraft zu tanken und sich selbst wiederzufinden.

In FORMEN MODERNER ERSCHÖPFUNG verwebt Regisseur und Drehbuchautor Sascha Hilpert die fiktiven Behandlungen von Henri und Nina mit der in dokumentarischer Form erzählten Geschichte des real und bis heute existierenden Ortes, der Klinik Dr. Barner, an dem die junge Historikerin Sarah Bernhardt für ihre Dissertation zur Geschichte der Erschöpfung forscht, die damals noch als „Neurasthenie“ bekannt war. In dem 125 Jahre alten Sanatorium suchte beispielweise schon der Maler Paul Klee Heilung – und schrieb an seine Frau Lily. Zeilen aus seinen Briefen sind gelegentlich aus dem Off zu hören, etwa, wenn Nina, die ihre Mutter bei einem Unfall verloren hat und glaubt, privat und im Beruf versagt zu haben, in ihrem stimmig möblierten Jugendstilzimmer mit den auffallenden Blumentapeten psychische Krisen durchlebt. Henri, der seinen Job in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung zumindest vorübergehend nicht mehr ausüben darf und den Schwindelanfälle plagen, muss im Sanatorium den Suizid seines Bruders und sein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater verarbeiten. Manchmal, wenn Henri in seinem Zimmer konzentriert puzzelt, ertönen Auszüge aus den Tagebüchern von Hans Erich Nossack, einem weiteren ehemaligen Patienten, die in loser Verbindung zu Henris Erlebnissen stehen. So überlagern sich immer wieder Fiktion und Realität, Geschichte und Gegenwart.

Dieser Erzählmix, für den Wim Wenders-Stipendiat Sascha Hilpert sich in seinem Spielfilmdebüt FORMEN MODERNER ERSCHÖPFUNG, den er bereits bei den Hofer Filmtagen und bei achtung berlin präsentierte, entschieden hat, ist durchaus gewagt. Doch die Kombination aus fiktiven und dokumentarischen Elementen, die im Sanatorium, der eigentlichen Hauptfigur des Films, zusammenlaufen, funktioniert – und ermöglicht einen vielschichtigen Einblick in den Alltag des ungewöhnlichen, gut erhaltenen historischen Privatkrankenhauses für Psychosomatik und Psychotherapie, inklusive echter Mitarbeiter*innen der Klinik, die sich selbst spielen. Spannend sind dabei besonders die authentisch wirkenden, intensiven Therapiegespräche. Auf die eigenwillig-düsteren Bilder, die in Kombination mit der Abgeschiedenheit des aus der Zeit gefallenen Jugendstil-Gebäudekomplexes auch ein perfektes Horrorfilmsetting abgeben würden, und den langsamen Fluss des zweistündigen Films und seiner verschiedenen, nicht immer auserzählten Geschichten muss man sich einlassen. Tut man es, findet man dabei – wie die Patient*innen der Kurklinik – möglicherweise tiefe Ruhe.

Stefanie Borowsky

FORMEN MODERNER ERSCHÖPFUNG, Regie: Sascha Hilpert. Darsteller*innen: Birgit Unterweger, Rafael Stachowiak, Wolf List, Sarah Bernhardt.

Kinostart: 13. November 2025.