KULISSEN DER MACHT von Dror Moreh
Wer soll, wer kann, wer darf einen Genozid verhindern? Mit welchem Recht und mit welchen Mitteln? Gibt es über den moralischen Beistand eine Verpflichtung, einzugreifen? Fragen, mit denen sich alle US-Regierungen seit Jahrzehnten auseinanderzusetzen haben. Nachdem am Ende des II. Weltkriegs das ganze Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen offenbar wurde, war sich die Weltöffentlichkeit über ein allgemeines „Nie wieder!“ einig. Die Gründung der Vereinten Nationen, die Formulierung der allgemeinen Menschenrechte und die spätestens mit dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess unter Strafe gestellten Verbrechen Völkermord und Angriffskrieg waren Reaktionen auf die unaussprechlichen Gräuel der Nazis.
Zugleich stellte sich neben der politischen auch die Frage nach der militärischen Verantwortung. Der Holocaust fand größtenteils in den von den Deutschen besetzten Gebieten statt. Spätestens 1944 aber waren den Alliierten die Grundzüge der Verbrechen bekannt, die Lage der Konzentrations- und Vernichtungslager, die Bahnstrecken, auf denen die Nazis ihre Opfer an die Orte der Vernichtung transportierten. Doch trotz der sich ständig ausweitenden alliierten Flächenbombardements, blieben jene Orte verschont. Hätte man die deutsche Vernichtungsindustrie stärker zum Ziel genommen, wären ihr vielleicht weniger Menschen zum Opfer gefallen.
Mit dem Ende der Sowjetunion, mithin des Kalten Krieges und der bipolaren Welt, mussten die USA ihre Rolle als (vorerst) einzig verbliebene Supermacht neu definieren. Denn auch nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes drohten an vielen Orten erneut nationale Konflikte auszubrechen, Völker einander bis aufs Blut zu bekämpfen. Schnell – und nicht nur in der westlichen Welt – wurde der Ruf laut, die USA mögen ihre dominierende Rolle in der Weltpolitik, vor allem aber ihre unbestreitbare militärische Übermacht nutzen, um als eine Art Weltpolizist regionale Konflikte frühzeitig zu unterbinden, Kriege zu beenden und mögliche Völkermorde zu verhindern. Abgesehen davon, dass dies durch keinen internationalen Vertrag oder gar die UNO abgesegnet wurde, begegneten andere Großmächte (China z.B. oder Russland) der Idee einer globalen Ordnungsmacht eher misstrauisch.
Dror Morehs KULISSEN DER MACHT geht der Frage nach, wann und warum verschiedenen US-Regierungen nach 1991 bei drohenden Völkermorden militärisch eingriffen – oder nicht. Der israelische Regisseur hat dafür eine beachtliche Schar an früheren und derzeitigen Regierungsmitarbeitern vor der Kamera versammelt, die zum Teil sehr offen und durchaus selbstkritisch das eigene Handeln kommentieren und hinterfragen. Immer wieder wird deutlich, dass der moralische Impuls anderen Abwägungen weichen muss. Diese können geostrategischer Natur sein oder wirtschaftspolitischen Interessen folgen. In anderen Fällen (Ruanda, 1994) mischen sich westliche Ignoranz mit – nennen wir ihn beim Namen: blanker Rassismus.
Die erste Herausforderung war der nach 1992 zerfallende Vielvölkerstaat Jugoslawien. Die frisch ins Amt gewählte Clinton-Regierung (1993-2001) tat sich zunächst schwer mit der neuen Rolle und drängte UNO und die (west)europäischen Verbündeten zur Übernahme von Verantwortung. Doch das Versagen der Europäer und spätestens das Massaker von Srebrenica (1995) ließen Clinton keine andere Wahl. Mit NATO-Luftschlägen wurde innerhalb kürzester Zeit der Frieden von Dayton herbei gebombt, der das fragile Staatskonstrukt Bosnien-Herzegowina bis heute regelt.
Kurz zuvor hatte man noch dem archaischem Gemetzel in Ruanda zugeschaut und lediglich einige weiße Botschaftsmitarbeiter*innen und Tourist*innen in Sicherheit gebracht. Die amerikanische Zurückhaltung folgte auch einem Stimmungsumschwung in der Bevölkerung, nachdem 1993 bei einer Friedensmission am Horn von Afrika zwei Hubschrauberbesatzungen abgeschossen und von einem somalischen Mob durch die Straßen geschliffen wurden. Warum sollte das Leben weiterer amerikanischer G.I.’s geopfert werden für einen Konflikt, der keine amerikanischen Interessen berührte?
Eine schwere Hypothek für die Glaubwürdigkeit der US-Regierung hinterließ die Bush-Administration (2001-2009), nachdem sie mit falschen Behauptungen und manipulierten „Beweisen“ den 3. Golfkrieg vom Zaun brach (2004) und damit selbst europäische Verbündete vor den Kopf stieß. Dass der irakische Diktator Saddam Hussein mit Giftgas ein entsetzliches Massaker an der eigenen Bevölkerung verübte, hatte 1988 keine unmittelbaren Folgen für ihn. Erst der Überfall auf Kuwait (1990) und die damit verbundene Bedrohung der Weltwirtschaft ließen den Westen eingreifen. Der ohne Not herbeigeführte 3. Golfkrieg nach 2004 aber führte neben zahlreichen Toten zu einer massiven Destabilisierung der ganzen Region und zum Aufstieg des IS. Darüberhinaus hinterließen die Bilder der von amerikanischen Soldat*innen gefolterten Iraker einen irreparablen Imageschaden für das US-Militär.
Morehs Film ruft diese Ereignisse und was bei den jeweiligen Konflikten auf dem Spiel stand mit zum Teil schwer erträglichen Archivaufnahmen in Erinnerung. Die brutalen Bilder stehen in starkem Kontrast zu den cleanen Interviewsituationen, bei denen die Gesprächspartner mittels Green Screen vor KI-generierte Räume gesetzt werden. Unter den Zeitzeugen sticht eine Stimme besonders hervor. Samantha Power hatte als junge Journalistin den Bosnien Konflikt hautnah miterlebt und berichtete später auch aus Ruanda oder dem Sudan. Mit ihrem Pulitzer-Preis-gekröntem Buch „A Problem From Hell: America And The Age Of Genocide“ (2003) machte sie auch den späteren US-Präsidenten Barak Obama auf sich aufmerksam. Der holte sie als Sonderassistentin in den Nationalen Sicherheitsrat und machte sie später zur US-Botschafterin bei der UN.
Power wurde oft als das moralische Gewissen Obamas bezeichnet. Ein Anspruch, an dem Power ebenso scheitern musste wie die Obama-Regierung (2009-2017) an den in sie gesteckten Hoffnungen. Der Versuch, immer das Richtige zu tun und keine Fehler zu machen, führte nicht zu einer besseren Welt. Während man in Libyen noch eingriff, das Ende des Diktators herbeiführte, den sich daran anschließenden Bürgerkrieg aber nicht verhindern konnte, verhedderte man sich in Syrien vollends in den Fallstricken einer falsch verstandenen Realpolitik. Und mit dem zynischen Gegenspieler Putin hatte die Lichtgestalt Obama schließlich ihren Meister gefunden. Welche „Roten Linien“ Obama auch festlegte, sie wurden überschritten, ohne das der Präsident bereit gewesen wäre, dem Taten folgen zu lassen.
Power hadert mit ihrem Scheitern, dem Versuch einer menschenrechtsorientierteren US-Außenpolitik. Sie ist aber auch klug genug, zu wissen, das ihr Rücktritt nichts bewirkt hätte – schon gar nicht zum Besseren. Sie wäre doch nur durch eine weniger idealistische Person ersetzt worden und hätte jeglichen Einfluß auch auf andere Felder verloren. Es ist eine resignative Einsicht, in der eine traurige Wahrheit steckt, über die all jene nachdenken sollten, die sich über zu viel US-Einfluss beschweren. Was passiert, wenn sich die US-Politik zurückzieht und nicht länger bereit ist, (aus welchen Motiven auch immer) Menschenrechte notfalls militärisch durchzusetzen, dafür ist Syrien ein abschreckendes Beispiel. Mit allen Folgen. Bis heute.
Morehs Film gibt einen interessanten Einblick in eine komplexe Problematik, für die es, wie so oft, keine einfachen Lösungen gibt. Dass manchen Administrationen amerikanische Interessen näher stehen als anderen, wird hier ebenso frank und frei beleuchtet, wie das Scheitern der hehren Ansprüche Obamas. Wenn man dem Film aber etwas vorwerfen kann, ist es die einseitige Konzentration auf die US-amerikanische Politik. Gerade aus europäischer Sicht würde man gerne erfahren, was frühere Politiker aus Frankreich, Großbritannien, Russland oder Deutschland zu ihrer Verantwortung beizutragen gehabt hätten.
THE CORRIDORS OF POWER, Regie: Dror Moreh, mit: Samantha Power, Madelaine Albright, James Baker, Hilary Clinton, Leon Panetta, Jake Sullivan u.v.a.