„Liebe“ von Michael Haneke


Georges und Anne: Eine Zweisamkeit, die materielle und seelische Nöte nicht kennt, Foto: X Verleih

Georges und Anne: Eine Zweisamkeit, die materielle und seelische Nöte nicht kennt, Foto: X Verleih

Zweisamkeit

Ein Zuschauer, der vom Regisseur dazu gebracht wird, den von Personen vollzogenen Bewegungen zu folgen, indem er die Personen mit dem Blick abtastet, hat zu sehen, wie sich die Bewegungen tatsächlich abspielen. In Michael Hanekes aktuellem Film „Liebe„, dem diesjährigen Cannes-Gewinner, steuert alles gehen, laufen, herumhantieren, empfangen und fabulieren nur auf eines zu – den Tod. Es ist die Geschichte von Georges (Jean-Louis Trintignant) und Anne (Emmanuelle Riva), zwei Musikprofessoren in ihren 80ern. Ihr Umfeld ist linksliberal und großbürgerlich. So verwundert es nicht, dass sie als ehemalige Klavierlehrerin die geradlinige Praktikerin und er als Autor der zurückhaltende, im Urteil sehr faire Theoretiker ist. Die Beziehung beider ist durch gegenseitigen Respekt und angemessene Distanz geprägt. Sie sind glücklich, abgesichert und waren in ihren Leben ausgesprochen erfolgreich.

Bei einem gemeinsamen Frühstück erstarrt Anne einige Minuten lang. Als Georges Hilfe holen möchte, kommt Anne wieder zu sich und weiß nicht, was vorgefallen ist. Nach der Konsultation des Arztes ist klar, dass Annes Halsschlagader verstopft ist. Der Schlaganfall folgt. Es wird operiert. Ab jetzt ist sie ein Pflegefall und die Zeit läuft ihr davon. Obwohl Georges sich aufopferungsvoll um Anne kümmert, ist Annes Autonomie gefährdet und an manchen Punkten einfach aufgehoben. Der Erfolg ihrer glücklichen Beziehung fußt zu einem großen Teil auf einer Höflichkeitsdistanz: Ich habe mein Leben. Du hast das deine. Viele Sachen überschneiden sich, aber längst nicht alles und das ist in Ordnung. In anderer Weise ist die Autonomie Georges durch die Großformel der Aufopferung schwer belastet.

Glücklicherweise setzen nun keine Novelle Vague-Stereotypen ein. Nach dem Motto: „Ich hatte eine Affäre“ oder „Ich habe das Kindermädchen gefickt“. Sie lieben sich, daran gibt es keinen Zweifel, aber beide können sich aufgrund ihrer sehr erfolgreichen Biografie nicht mit dem Satz und dem damit verbunden Gefühl anfreunden: „Ich bin damit überfordert“. Georges flüchtet sich nun in Tagträume. Anne verkümmert. Das Drängen der Tochter Eva (Isabelle Huppert) nach einem weiteren Krankenhausaufenthalt stößt auf taube Ohren. Nun ist Anne inkontinent. Georges engagiert einen Pflegedienst. Als er eines Tages mit ansieht, wie sich die Pflegerin um seine Frau kümmert, feuert er sie. Der Umgang der Pflegerin ist lieblos, routiniert und sie behandelt Anne wie ein Kleinkind. In dieser einen Szene ist er entsetzlich wütend. In der Szene darauf füttert er Anne selbst und sie will und kann nicht mehr schlucken. Er ohrfeigt sie.

Der Unterschied zwischen Recht und Tat(sache), Abwägung und Urteilsfindung ist hier freilich denkbar schwer. Georges ist jedoch eines klar: Was neu hinzukommt ist etwas Negatives, aber nicht in dem arithmetischen Sinne von Plus oder Minus, auch nicht im Sinne einer dialektischen Aufhebung des Negierten, sondern als ein spezifischer Zusatz von Degradierung und Diskriminierung. Georges liebt an Anne den höheren Wert einer Zweisamkeit, der ein „Wir“ nicht braucht. Eine Zweisamkeit, die keine Abhängigkeitbeziehung ist. Eine Zweisamkeit, die sich durch den Transfer von Gefühlen und Interesse selbst reguliert. Eine Zweisamkeit, die materielle und seelische Nöte nicht kennt. Georges und Anne führen keine Beziehung. Sie sind ein Team.

Michael Haneke beweist erneut Geschick und wenn man so will den Geschmack, den Tod als solchen nicht als etwas Plot vorantreibendes zu inszenieren, sondern als Fatum und letzten Prüfstein für den Zustand eines Soziotops. Was er dabei findet, ist auch in diesem Fall nicht schön. Respekt, Verständnis und Interesse haben eine sehr enge Verwandtschaft zu Geld und Gesundheit. Liebe ist dabei das Kampfmittel, das den Raum für diese Gefühlsbekundungen verteidigt.

Joris J.

Liebe Regie/Drehbuch: Michale Haneke, Darsteller: Emmanuelle Riva, Jean-Louis Trintignant, Isabelle Huppert, William Shimell, Laurent Capelluto, Rita Blanco, Kinostart: 20. September