„Life in Stills“ von Tamar Tal


Ben und Miriam: Die Geschichte einer Familie in Bildern festgehalten.

Ben und Miriam: Die Geschichte einer Familie in Bildern festgehalten. Foto: Moviemento Filmverleih

Zu kurz für ein Leben

Miriam Weissenstein ist 96 Jahre alt, schwerhörig und halb blind, doch wer sie für eine beliebige, alte Oma hält, wird schnell Lügen gestraft. Denn Weissenstein pflegt das Vermächtnis ihres Mannes Rudi Weissenstein, der 1940 den ersten Photoshop Tel Avivs, die Zalemania, eröffnete und mit seinen rund 1 Millionen Photographien (bzw. Negativen) die Geschichte Israels von seinen Anfängen bis 1992 begleitet hat. Herzstück des Nachlasses: Die Dokumentation der Proklamation der Staatsgründung Israels, zu der er als einziger Photograph geladen war.

Zusammen mit ihrem Enkel Ben pflegt Miriam Weissenstein das große Erbe – der Photoshop ist Archiv, Galerie und historischer Verknüpfungspunkt zugleich. „Life in Stills“ (Israel, 2012) bebildert das Verhältnis von Oma und Enkel und beleuchtet dabei die Gemeinsamkeiten und Distanzen zwischen zwei Generationen. Ben hilft ihr aufzustehen, er stützt sie beim Gehen, beim Löffeln der Suppe putzt er ihr die Nase: Die Nähe der beiden ist immer spürbar und unmittelbar. Dass die Dokumentation trotzdem kein Rührstück ist, liegt an ihrem gemeinsamen Konflikt und Ziel – den Photoshop zu erhalten, obwohl er im Rahmen eines großen Bauprojekts abgerissen werden soll.

Wer diese Geschichte schon großartig genug findet – und das ist sie – der wird von einem weiteren Aspekt der Familienverhältnisse überrollt: die Elterngeneration, dem Verbindungsglied zwischen der alten, hutzeligen Frau und dem wunderschönen, jungen Mann, ist einem Unglück zum Opfer gefallen. Bens Vater brachte 2001 seine Mutter um, als sie sich von ihm trennen wollte und nahm sich danach das Leben. Bens Verlust der Eltern und Miriams Verlust ihrer Tochter haben die beiden noch näher zusammenrücken lassen, obwohl sie unfähig sind, den Schmerz in Worte fassen zu können.

Gerade einmal 60 Minuten lässt sich „Life in Stills“ für all diese Geschichten Zeit – das ist gewagt und vielleicht zu wenig. Dabei versuchen die wunderbaren Photographien, den Film zusammen zu halten. Da dampfen die Immigrantenboote 1938 in den Hafen hinein, dort verkaufen Kinder Eis. Vor allem das Foto von Miriam als junge Frau begeistert. Eine Portraitaufnahme, die sie beim Sprung in die Luft zeigt – ein Foto, das man glaubt wieder zu erkennen, auch wenn man es noch vorher gesehen hat; ein richtiges Original.

Und trotzdem fehlt dem Film das, was man wohl getrost eine „innere Mitte“ nennen darf, ein konkreter Fokus auf eine der vielen erzählenswerten Geschichten. Es scheint, als hätte die Regisseurin Tamar Tal eigentlich einen Film über den Photoshop machen wollen, aber dann versehentlich beim Dreh festgestellt, dass das Verhältnis zwischen Ben und Miriam eigentlich viel interessanter ist. Und so zeigt der Film Miriam und Ben in ihrem familiären Alltag oder bei einer Galerieeröffnung in Deutschland – lauter an sich sehenswerte Bruchstücke, die nie zu einer gänzlich stimmigen Form zusammenfinden. Die Faszination eines nationalen und auch internationalen Publikums für den legendären Photoshop erschließt sich so zum Beispiel erst bei einem genaueren Blick in das Presseheft. Rudi Weissenstein war der offizielle Fotograf der Philharmoniker und hat wie kaum ein anderer die städtische Entwicklung Tel Avivs dokumentiert.

Trotz dieser Schwächen bleibt „Life in Stills“ ein kurzweiliger, ein unterhaltsamer Film, der vor allem von seinen komischen Momenten, seiner Zuneigung für die beiden Hauptcharaktere und seinen schönen Photographien lebt. Und vielleicht wollte Tamar Tal ja auch gerade das – eine Ansammlung von Momentaufnahmen schaffen, die wahrlich zufällige Eindrücke und eindrückliche Bilder nebeneinander stellt, wie die unberechenbare Erinnerung an das eigene Leben, wie ein Life in stills.

Marie Ketzscher

„Life in Stills“, Regie/Drehbuch: Tamar Tal, Kinostart. 16. August 2012