NEU im Kino: EMILIA PÉREZ von Jacques Audiard
Todo o nada
Die talentierte, aber frustrierte Anwältin Rita (Zoe Saldana) hat gerade erst einen wohlhabenden und gut vernetzten Sexualstraftäter erfolgreich verteidigt, als sie über einen Markt in Mexico City läuft und plötzlich – zunächst leise, doch dann immer lauter werdend – ihre Wut in einem mitreißenden Song herausschreit, in den schon bald die anderen Passanten und Händler einstimmen. Etwas stimmt nicht im Staate Mexiko. Die Gesellschaft ist geprägt von Korruption und brutalster Gewalt, im Würgegriff übermächtiger Drogenkartelle und von einer Machokultur durchdrungen, die Frauen oft marginalisiert und zu unsichtbaren Opfern degradiert. Rita ist Teil des Problems, verdient sie ihren Lebensunterhalt doch, in dem sie die Täter vor der angemessenen Strafe bewahrt.
Gleich in den ersten Minuten stellt EMILIA PÉREZ klar, in welcher Welt wir uns in diesem Film bewegen und zugleich, mit was für einer Art von Film wir es hier zu tun haben. Denn Ritas rant ist ein schmissiger Song und EMILIA PÉREZ ein Musical. Allerdings eines, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Immer wieder wird in diesem Film gesungen. Nicht selten übernehmen die Songs die Funktion von Dialogen oder sprechen über Dinge, die in anderer Form nur schwerlich so offen und frei artikuliert werden könnten. Die Umwandlung von Penissen in Vaginas zum Beispiel, die als Thema eines Song aber die wilde Natur von EMILIA PÉREZ unterstreichen.
Rita bekommt ein unwiderstehliches Angebot. Ein letzter, äußerst lukrativer Job, nach dem sie sich zur Ruhe setzen und dieser Welt aus Falschheit und Betrug entfliehen kann. Manitas del Monte, der den zweifelhaften Ruf genießt, der brutalste unter den mörderischen Kartellbossen zu sein, möchte sich ebenfalls zurückziehen, seine Sphäre der Gewalt verlassen. Ein Mann in seiner Position kann aber nicht einfach abdanken. Er muss verschwinden, offiziell sterben und zu einer gänzlich anderen Person werden. Manitas hat einen radikalen Wunsch. Er möchte endlich als die Person leben, die sie insgeheim schon immer gewesen ist und zu deren wahrer Natur ihr Rita verhelfen soll. Alles wird organisiert. Manitas’ „Tod“, die Operation, die finanzielle Absicherung.
Jahre später trifft Rita in London eine Landsfrau namens Emilia Pérez (Karla Sofía Gascón), die sich als jener letzte Klientin offenbart. Emilia geht es gut. Sie hat ihr altes Leben – nicht aber ihren Reichtum! – hinter sich gelassen, wünscht nun aber doch ihre Frau Jessi (Selena Gomez) und die beiden Kinder an ihre Seite.
Regisseur Jacques Audiard arbeitet sicherlich nicht monothematisch, er hat Gangsterepen (EIN PROPHET, 2009), romantische Komödien (WO IN PARIS DIE SONNE AUFGEHT, 2021), Melodramen (DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN, 2012) und sogar einen waschechten Western (THE SISTERS BROTHERS, 2018) inszeniert. Eine große Gemeinsamkeit kennzeichnet sein Werk: Audiards Lust, sich in verschiedensten Genres auszuprobieren. Mit EMILIA PÉREZ legt er gewiss sein bislang ambitioniertestes Werk vor. Dafür lehnt er sich sehr weit aus dem Fenster: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Gewonnen hat Audiard auf jeden Fall – an Aufmerksamkeit. Sein Film gehört zu den aufregendsten und meist diskutierten der Saison. Ob EMILIA PÉREZ aber ein künstlerischer Erfolg ist, darüber gehen die Meinungen, gelinde gesagt, weit auseinander.
Seit der Weltpremiere im Mai beim Festival in Cannes fährt der Film viel Lob als mutiger und sehr unterhaltsamer Genre-Mix ein. Das stilistisch wie inhaltlich herausfordernde Werk sei die Antwort auf immer wieder vorgetragene Klagen, das Kino entwickle keine neuen Storys mehr. Audiard erzählt in EMILIA PÉREZ unter hohem Tempo und durchaus gewitzt viele verschiedene Storys. Da ist das oben beschriebene soziokulturelle Klima. Da sind die miteinander verschlungenen Erzählungen vom Mann, der eigentlich eine Frau ist und dem Gangster, der nach Wiedergutmachung strebt. Da ist das von Lügen und schließlich auch Gewalt durchwobene Ehedrama. Und da ist das Porträt einer Gesellschaft, die des tausendfachen Mordens und der verschwundenen und verscharrten Leichen müde ist und nach Vergebung und Erlösung sucht. EMILIA PÉREZ, dieser wilde Mix aus Drogenkrimi, Telenovela, Heldinnengeschichte und Transgender-Story, ist ein großes Wagnis. Und es funktioniert nur, wenn man sich darauf einlässt.
Kritische Stimmen monieren den zum Teil hanebüchenen Plot oder den nicht immer stilsicheren Umgang mit der Transgender-Thematik. Die Handlung, die Motivation der Heldinnen, fast alles in diesem Film ist so fantasievoll – oder unwahrscheinlich – wie man das von einem klassischen Musical gewohnt ist. Einem Fiebertraum gleich überspringt – oder umtanzt – EMILIA PÉREZ sämtliche Logiklöcher des Drehbuchs und stellt sich als flamboyantes Spektakel aus. Die Darsteller*innen sind hinreißend, die Sets aufregend, der Sound groovt. Und doch gibt es einige Haken.
Warum man zum Beispiel bei einer ausgefeilten Choreographie zwar die sich durchaus anmutig bewegenden Oberkörper der Tänzer*innen zeigt, ihr eigentliches Werkzeug aber, die Fußarbeit, immer wieder aus dem Fokus rückt, erschließt sich mir nicht. Ein Problem, das schon Steven Spielbergs WEST SIDE STORY (2021) gegenüber dem berühmten Original von 1961 zurückfallen ließ und das Audiards Tanzszenen trotz schwungvoller Kamera an Eleganz missen lässt. Auch besitzt nicht jeder Song, nicht jede Choreografie die gleiche Durchschlagskraft. Manche Nummern sind gar recht öde.
Großes Lob verdienen dagegen die Schauspieler*innen. Mit Saldana, Gascón, Gomez und Adriana Paz wurden erstmals in Cannes gleich vier Darstellerinnen ausgezeichnet. Der Ensemblepreis stellt ein doppeltes Novum für Cannes dar, denn mit Gascón wurde auch zum ersten mal eine Transfrau als beste Darstellerin gewürdigt. Eine weitere Auszeichnung gab es für Singer-Songwriterin Camille und Komponist Clément Ducol für die beste Filmmusik.
Zoe Saldana, die mit Hauptrollen in immerhin vier der zehn erfolgreichsten Filme aller Zeiten, eigentlich einer der größten Stars ihrer Generation sein müsste, zeigt in EMILIA PÉREZ – und, im Unterschied zu den Blockbustern, in ihrer natürlichen Hautfarbe – die bislang beste Performance ihrer Karriere. Dass Saldana Action kann und auch sonst über eine beeindruckende schauspielerische Präsenz und große emotionale Bandbreite verfügt, wussten wir schon. Dass sie auch singen und tanzen kann, ist neu.
Mit Selena Gomez ist es genau umgekehrt. Bei einem globalen Popstar sind Gesangs- und Tanzkünste eingepreist. In der populären Serie ONLY MURDERS IN THE BUILDING zeigt Gomez seit längerem auch Comedy Skills. In EMILIA PÉREZ darf sie nun als verletzte Ehefrau und Gangsterbraut auch ihre dramatische Qualität ausspielen. Leider gibt ihr das Drehbuch zu wenig Raum, um sich zu entfalten. Das gilt auch für Adriana Paz als Emilias Geliebte und Ramirez, die in kleineren Auftritten ihre Figuren allenfalls skizzieren können.
Die eigentliche Entdeckung des Films ist aber sowieso die charismatische Karla Sofía Gascón in der Titelrolle. Gascón, die bisher vor allem in spanischen Telenovelas auftrat, hinterlässt, was auch immer man sonst von dem Film halten mag, einen bleibenden Eindruck. Als Emilia Pérez hat sie eine charmante und warme Präsenz, hinter der aber permanent eine sinistre Gefährlichkeit lauert. Sie mag ihr Geschlecht und ihre Identität geändert haben und ist doch für einige der schrecklichsten Verbrechen verantwortlich. Wird ihr die Wandlung vom Massenmörder zur Friedenskönigin gelingen und wäre das gerecht?
EMILIA PÉREZ sollte als Film eigentlich nicht funktionieren und für manche Kritiker tut er das ja auch nicht. Viele – vielleicht zu viele – Erzählstränge versucht Audiard hier in der Balance zu halten, mit wechselhaftem Erfolg. Nicht jede Volte, nicht jede Plotline führt zu einem befriedigenden Abschluss. Doch wenn der große, immer wieder nach neuen Wegen suchende Kinoerzähler Jacques Audiard eine – die wichtigste – Kinoweisheit zu berücksichtigen weiß, dann folgende: Du sollst nicht langweilen! Und langweilig ist EMILIA PÉREZ ganz bestimmt nicht.
Anmerkungen zu EMILIA PÉREZ von Jacques Audiard
von: Thomas Heil
EMILIA PÉREZ, Regie: Jacques Audiard, Darsteller_innen: Zoe Saldana, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez, Adriana Paz, Edgar Ramírez, Mark Ivanir u.v.a.
EMILIA PÉREZ läuft seit 28. November im Kino und wird später bei Netflix zu sehen sein.
Oscar-Prediction
Mögliche Oscarnominierungen: Bester Film, Bester Internationaler Film, Regie, Hauptdarstellerin, Nebendarstellerin, Kamera, Schnitt, Ausstattung, Kostüme, Ton, Score, Song.