OLFAS TÖCHTER von Kaouther Ben Hania


OLFAS TÖCHTER © Twenty Twenty Vision
OLFAS TÖCHTER © Twenty Twenty Vision

Anfang 2011 beginnt in Tunesien der so genannte Arabische Frühling. Die Protestwelle, die zum Sturz des langjährigen Diktators Ben Ali führt, breitet sich wie ein Lauffeuer in der gesamten arabischen Welt aus. Viele Despoten werden gestürzt, fliehen oder werden von Aufständischen getötet. Doch während in einigen Ländern (Syrien, Jemen, Libyen) noch heute blutige Bürgerkriege ausgetragen werden und in anderen (Ägypten) Diktaturen etabliert wurden, die an Brutalität ihren Vorgängern in nichts nachstehen, konnte das zarte Pflänzchen Demokratie nur in Tunesien gedeihen, wo es aber inzwischen auch schon wieder vom Aussterben bedroht ist.

Die Ereignisse hinterlassen auch dramatische Spuren in der Familie von Olfa. Die einfache, resolute Frau hat schon in früher Kindheit gelernt, ihre alleinerziehende Mutter und ihre Geschwister vor den Übergriffen einer stark patriarchal geprägten Gemeinschaft zu schützen. In ihrer Hochzeitsnacht zeigt sie ihrem Nichtsnutz von Gatten ganz schnell, wer in der Familie die Hosen anhat. Im Lauf der Jahre bringt sie vier Töchter zur Welt, die von ihr beschützt, aber auch von strenger Hand erzogen werden. Olfas traditionell geprägtes Körper- und Frauenbild gepaart mit ihrer Furcht vor moralischen Verfehlungen schnürt den Töchtern ein enges Korsett, das familiärer Schutzraum und Gefängnis zugleich ist und das auch mit Schlägen verteidigt wird.

Der politische Umsturz führt auch zu Olfas persönlicher Revolution. Sie trennt sich von ihrem ohnehin nur gelegentlich (und dann meist in angetrunkenem Zustand) anwesenden Mann, zieht zu einer Schwester und erlebt zum ersten Mal persönliches Glück. Sie verliebt sich in Wissem, einem während der Tumulte geflohenen Straftäter, unwissend, dass dieser sich an ihren Töchtern sexuell vergeht. Nachdem Wissem zurück ins Gefängnis muss, nimmt die Katastrophe in Olfas Familie an Fahrt auf.

Die während der Diktatur verfolgten Islamisten feiern in der jungen Demokratie fröhliche Urstände und nutzen die neu gewonnene Freiheit, ihre Mitmenschen in die Unfreiheit zurückzuführen. Vor allem die beiden älteren Töchter Ghofrane und Rahma sind für die rigiden Moralvorstellungen der Radikalen empfänglich und überzeugen die anderen drei Frauen, nur noch im Hidschāb (eine Ganzkörperverschleierung, die nur das Gesicht offen lässt) bzw. im Niquab (bei dem nur die Augenpartie offen ist) vor die Tür zu treten. Mit ihren strikten Vorschriften und Verboten beginnen Ghofrane und Rahma, die zuvor ganz normale junge Frauen waren, ihre Familie zu terrorisieren. Die Familie zerbricht schließlich, als beide sich dem IS in Libyen anschließen.

Für ihren bemerkenswerten Film über Olfa und ihre Töchter hat Kaouther Ben Hania, die vor zwei Jahren mit THE MAN WHO SOLD HIS SKIN den ersten tunesischen Film schuf, der für einen Oscar nominiert wurde, eine besondere Form gewählt. Olfa und die bei ihr verbliebenen jüngeren Töchter Tayssir und Eya berichten nicht nur über die Ereignisse, die zum Verschwinden von Rahma und Ghofrane führten. Sie stellen einzelne Episoden und Ereignisse nach und werden in diesen Reenactments von vier professionellen Schauspielern unterstützt. Während Ichrak Matar (Ghofrane) und Nour Karoui (Rahma) in Alter und Aussehen etwa ihren Rollen entsprechen, springt die in ihrer Heimat sehr bekannte Hind Sabri in jenen Szenen als Mutter ein, deren Nachstellung für Olfa zu schwer erträglich sind. Majd Mastoura schließlich übernimmt sämtliche männlichen Rollen.

Auf diese Weise lernt man nicht nur die Familie und ihr Drama besser kennen. Einen erheblichen Anteil seiner Faszination zieht OLFAS TÖCHTER aus dem sich zwischen den Darstellern und den realen Personen entwickelnden Zwiegespräch. Matar und Karoui sind wie Eya und Tayssir junge, moderne Frauen, die mit Olfas traditionellen Vorstellungen und ihren Erziehungsmethoden nicht mehr viel anfangen können. In einer der schönsten Szenen sitzen und liegen die vier miteinander auf einem Sofa und plaudern ausgelassen über Themen junger Frauen. Wie echte Schwestern (oder beste Freundinnen) wirken sie da, eine verschworene Gemeinschaft, eine Sisterhood, die sich aus der Situation und gegenseitigem Verständnis heraus ergibt.

Wie ein Zaungast beobachtet Olfa dieses Gespräch. Dies, gibt ihr Sabri zu verstehen, ist die nächste Generation – eine, die den Teufelskreis aus strenger Erziehung und frauenfeindlicher Tradition durchbricht, dem Olfa trotz bester Absichten noch verhaftet ist. Auch Olfas Fehler und die Gewalt, mit der sie hin und wieder ihre Vorstellungen gegen ihre Töchter durchzusetzen sucht, kommen unerbittlich zur Sprache und es mag der Situation am Set, aber auch der behutsamen Annäherung Ben Hanias an die schwierigen Aspekte des Familienlebens zu verdanken sein, dass Olfa bereit ist, sich diesen Dämonen zu stellen.

Die Verbindung von Dokumentation und von den Akteuren nachgestellten Handlungen erinnert an Joshua Oppenheimers Annäherung an den Genozid in Indonesien in THE ACT OF KILLING (2012) und THE LOOK OF SILENCE (2014). Doch Ben Hanias Blick ist sehr viel intimer. Er erlaubt den jüngeren Töchtern sich mit ihrer Familiengeschichte, vor allem aber mit ihrer Mutter und deren Rolle, auseinanderzusetzen und Dinge auszudrücken, Wut und Ärger, aber auch Freude und Liebe, die anderenfalls vielleicht nie zur Sprache gekommen wären. Und so reiht sich OLFAS TÖCHTER in einen Kinojahrgang 2023 ein, der sich immer wieder und immer wieder auf ganz unterschiedliche Weise mit weiblicher Selbstfindung und Selbstermächtigung auseinandergesetzt hat.

Mögliche Oscarnominierungen: International Feature Film, Documentary Feature Film

LES FILLES D’OLFA, Regie: Kaouther Ben Hania, Darsteller_innen: Olfa Hamrouni, Eya Chikhaoui, Tayssir Chikhaoui, Hind Sabri, Nour Karoui, Ichrak Matar, Majd Mastoura.