OPPENHEIMER von Christopher Nolan


OPPENHEIMER © Universal Pictures. All Rights Reserved
OPPENHEIMER © Universal Pictures. All Rights Reserved

Das Kinojahr 2023 hat am vergangenen Wochenende mit der Veröffentlichung von „BARBENHEIMER“ seinen vorläufigen (kommerziellen) Höhepunkt erreicht – pünktlich zum durch den gemeinsamen Streik von WGA (etwa 11.000 Drehbuchautoren) und SAG-AFTRA (ca. 160.000 gewerkschaftlich gebundene Schauspieler) erfolgten Stillstand sämtlicher Produktionsprozesse in Hollywood, der auch die wichtigen Werbeauftritte der Stars einschließt, die heute alle Filmpremieren begleiten und vorbereiten. Das Phänomen „BARBENHEIMER“ erscheint  vor diesem Hintergrund wie das letzte Aufbäumen einer sowohl durch den globalen Erfolg der sich zersplitternden Landschaft an Streamingdiensten wie durch den Einsatz von KI zutiefst verunsicherten Branche mit zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbaren Folgen für die weitere Release Strategie der großen Studios.

Zeitgleich mit Greta Gerwigs fulminanten Blockbuster BARBIE, der mit einem Einspielergebnis von mehr als 155 Millionen $ allein in Nordamerika den erfolgreichsten Start eines von einer Frau inszenierten Films erlebte, lief in den Kinos weltweit der ebenfalls von seinen Fans herbeigesehnte neue Film von Christopher Nolan an. Der erfolgsverwöhnte Regisseur von Filmen wie INCEPTION (2010), INTERSTELLAR (2014) oder der DARK KNIGHT Trilogie (2005 bis 2012) kann auf ihm treu ergebene und ihn gegen jede Kritik verteidigende Anhänger zählen, die im Gegensatz zu Gerwigs am vergangenen Wochenende vermutlich noch mal angewachsene Fangemeinde, ganz überwiegend aus Männern bestehen dürfte. Das konnte man auch in den Kinos sehen. Während sich vor den Sälen, die BARBIE zeigten, ein buntes (nicht selten pink gekleidetes) heterogenes und sexuell diverses Publikum versammelte, wurden die Vorführungen von Nolans Opus Magnum OPPENHEIMER vor allem von männlichen Besuchern in dunkler bis gedeckter Kleidung aufgesucht.

Das soll aber nicht davon ablenken, dass sich Nolan in den letzten 20 Jahren unter den im Mainstream arbeitenden Regisseuren, den nicht ganz selbstverständlichen Ruf verdient hat, der Mann für den thinking mans Blockbuster zu sein. Seine Filme bedienen das eskapistische Bedürfnis des gemeinen Kinobesuchers mit spektakulären, bisweilen monumentalen Actionsequenzen und fordern zugleich mit ihren komplexen Erzählstrukturen und Figurenkonstellationen dessen Abstraktionsvermögen heraus. Wiederkehrend ist dabei Nolans Faszination für das Phänomen Zeit, mit dem er sich in seinen Filmen inhaltlich oder erzählerisch auseinandersetzt. So hat er in seinem zweiten Spielfilm MEMENTO (2000) eine Geschichte rückwärts erzählt, in DUNKIRK (2017) drei Erzählebenen mit unterschiedlichem Tempo meisterhaft verschränkt und in seinem letzten Film TENET (2020) zwei Erzählstränge vorwärts und rückwärts aufeinander zulaufen lassen.

Nun gibt es in OPPENHEIMER keine spektakulären Kampfszenen, keine atemberaubenden Sprünge durch Raum und Zeit und keine kollabierenden Traumlandschaften. OPPENHEIMER zeigt   stattdessen größtenteils Wissenschaftler bei der minutiösen Vorbereitung eines zugegebenermaßen gewaltigen, die Geschichte der Menschheit verändernden Experiments. Im überwiegenden Teil des Films sind Männer zu sehen (ja, OPPENHEIMER ist ein Christopher Nolan-Film – das heißt, trotz offensichtlicher Bemühungen, fällt es ihm nach wie vor schwer, interessante weibliche Figuren zu schaffen), die sich unterhalten, manchmal etwas aufgeregter unterhalten.

Trotzdem ist OPPENHEIMER ein Film, wie man ihn noch nicht gesehen hat. Dem etwas ausgelutschten Genre des Biopics fügt OPPENHEIMER eine faszinierende und (weil es ein Nolan-Film ist) spektakuläre Note hinzu. Zum zweiten mal nach DUNKIRK hat er sich eines historischen Themas angenommen. Im Zentrum des Films steht der Vater der Atombombe, ein genialer Wissenschaftler, der ein neues Zeitalter, das Atomzeitalter, einläutete und zugleich der Menschheit das finale Werkzeug in die Hand gab, sich selbst zu vernichten.

Der Kern des Films, die akribische Vorbereitung und Durchführung des streng geheimen Manhattan-Projekts (der Bau und die Zündung der ersten Atombombe auf einer wüsten Hochebene in New Mexiko), ist eingebetet in eine eliptische Erzählung, die im Wesentlichen aus zwei sich spiegelnden Hearings besteht, die beide Jahre nach Oppenheimers Triumph stattfanden und zu gänzlich unterschiedlichen Ergebnissen führten. Entlang dieser Hauptstruktur sind weitere Elipsen angehängt, die Oppenheimers Vorgeschichte, sein Liebesleben, seine politischen Zweifel und schließlich seine moralische Verzweifelung behandeln. Die Geschichte J. Robert Oppenheimers, der im Zenit seines Lebens als brillantester Kopf der Wissenschaft galt, wird von Nolan als Drama von shakespeareschen Ausmaß erzählt, das aber nicht linear sonder kaleidoskopartig aufgeschlüsselt ist und dessen letzte Szene, ein Gespräch Oppenheimers mit Albert Einstein, dem Publikum das Blut in den Adern gefrieren lässt.

Neben der packenden Story weiß OPPENHEIMER auf visueller und akkustischer Ebene zu beeindrucken. Das Soundwork ist on point, vom enervierenden, die Spannung stetig steigernden Schuhgetrampel, über tickende Uhren, zischenden Frequenzüberlagerungen bis hin zur Wucht der Explosion, die das Publikum in den Kinosessel drückt. Ludwig Göranssons beinahe jede Szene begleitende Musik gehört zu den besten Scores des Jahres. Der Oscarpreisträger (BLACK PANTHER, 2018) hat sich spätestens mit dieser Arbeit als adäquater Nachfolger für Nolans Langzeitkollaborateur Hans Zimmer etabliert.

Hoyte van Hoytema, der für Nolan schon die visuelle Gestaltung von INTERSTELLAR, DUNKIRK und TENET verantwortete, setzt hier im großen Stil auf den Einsatz von Halbnahen und Close-ups. Dies wirkt sich vor allem durch den kombinierten Einsatz von IMAX und 70mm-Aufnahmen aus, die gerade in IMAX-Vorführung aus den bisweilen bildfüllenden Gesichtern riesige emotionale Landschaften machen. Der erstmalige Einsatz von IMAX Schwarzweiß-Analogfilm – das eingesetzte Material wurde von Kodak extra auf Wunsch Nolans für OPPENHEIMER entwickelt – deutet einen vom Publikum erst später registrierten Perspektivwechsel an. Auch auf allen anderen technischen Ebenen überzeugt OPPENHEIMER auf ganzer Linie. Zusammengehalten wird das alles schließlich durch Jennifer Lames exzellente, die verschiedenen Erzählebenen miteinander verschränkenden  Montage.

Während die Rahmenhandlung die existentialistischen Aspekte der Geschichte behandelt und bisweilen Elemente eines Horrorfilms ausweist, ist das Zentrum des Films, die Darstellung des Manhattan-Projekts als Science-Thriller inszeniert. Auf der einen Seite stehen da die Wissenschaftler, die brillantesten Köpfe ihrer Zeit, die nicht nur aus wissenschaftlichem Interesse handeln, sondern auch aus Furcht, Deutschland könnte eine eigene Atombombe entwickeln und auf diese Weise den Kriegsausgang auf katastrophale Weise für sich entscheiden. Auf der anderen Seite stellen Militär und Industrie die Ressourcen und finanziellen Mittel zur Verfügung. Alles in allem verschlang die Produktion der ersten Atombomben die unerhörte Summe von 2 Milliarden US-$.

Auf der Zielgeraden fällt der besiegte Kriegsgegner Deutschland als Hauptmotivator des Projekts aus, die Notwendigkeit, die Bombe zu bauen, von deren Gefährlichkeit die meisten Wissenschaftler überzeugt sind, hat sich in Luft aufgelöst. Doch die ungewissen Dynamiken in Europa und Fernost haben in der Politik Begehrlichkeiten geweckt, denen auch die vernünftigste Argumentation nichts entgegenzusetzen hat. Ein tödlicher Kreislauf, in dem auch Oppenheimers Haltung, gelinde gesagt, ambivalent ist. Die persönliche Verantwortung für das Gelingen des Projekts wird ihn für den Rest seines Lebens belasten. Doch kann eine verzweifelte Existenz kaum genug sein, dem katastrophalen Triumph des J. Robert Oppenheimer gerecht zu werden. Wie hoch der Preis für das Gelingen des Manhattan-Projekts tatsächlich ist, das stellt Nolan unmissverständlich klar, ist noch lange nicht auserzählt.

Mit OPPENHEIMER hat Christopher Nolan einen, wenn nicht gar den besten Film seiner Karriere geschaffen. Ein historisches Drama, ein hochspannender Thriller und schließlich eine beängstigend aktuelle Reflexion über die tödlichste Macht des Planeten und die unwürdigen Subjekte, die sich erdreisten, mit ihr zu spielen. Der Film ist ein erzählerisches und ein technisches Meisterwerk, das nur in wenigen Aspekten, zum Beispiel der notorischen Schwäche Nolans bei der Gestaltung weiblicher Figuren, Mängel aufweist.

Ein besonderes Lob verdient auch die Besetzung, die sich wie ein Who’s Who Hollywoods liest. Selbst in kleinsten Rollen tauchen bekannte Gesichter und nicht wenige Oscarpreisträger auf. Das gesamte Ensemble unterstützt eine brillante zentrale Performance des irischen Schauspielers Cillian Murphy, der hier endlich einmal eine Hauptrolle in einem großen Hollywoodfilm spielen darf. Murphys zurückhaltende, internalisierte Darstellung des ebenso von sich überzeugten, wie mit seinen inneren Dämonen ringenden Genies, könnte dem PEAKY BLINDERS-Star in einigen Monaten den Oscar bescheren. Das Gleiche gilt für Robert Downey, Jr., der als Oppenheimers Gegenspieler Lewis Straus vor allem im letzten Drittel des Films zur Höchstform aufläuft.

Mögliche Oscarnominierungen: Bester Film, Regie, Drehbuch, Hauptdarsteller, Nebendarsteller, Kamera, Schnitt, Production Design, Kostüme, MakeUp & Hair Styling, Ton, Visuelle Effekte, Score.

Thomas Heil

OPPENHEIMER, Regie: Christopher Nolan, Darsteller_innen: Cillian Murphy, Robert Downey, Jr., Matt Damon, Emily Blunt, Alden Ehrenreich, Jason Clarke, David Krumholtz, Josh Hartnett, Florence Pugh, Benny Safdie, Kenneth Brannagh, Tom Conti u.v.m.