SLOW von Marija Kavtaradze


SLOW © Andrius Aleksandravicius
SLOW © Andrius Aleksandravicius

Ein anderes Begehren

Elena (Greta Grinevičiūtė) hat keine Lust, sich zu binden, sie geht auf Dates und hat Sex, mit wem sie will. Von Beruf ist sie Tänzerin und gibt Workshops. Bei einem ihrer Workshops für gehörlose Jugendliche lernt sie Dovydas (Kęstutis Cicėnas) kennen, der als Gebärdensprachedolmetscher arbeitet. Die beiden sind sich sofort sympathisch – als würden sie sich schon ewig kennen, sagt Elena. Wie es weitergeht, scheint klar: Flirten, ein Kuss, Sex, vielleicht mehr – wie das Amen in der Kirche. Bevor es überhaupt zum Küssen kommt, sagt Dovydas allerdings: „Ich bin asexuell“. Elena lacht erstmal. Was heißt das überhaupt? „Ich fühle mich zu niemandem sexuell hingezogen“. Ah – also kein Sex. Keine Nähe? Keine „richtige“ Liebe? Elena geht erst einmal auf Abstand. Und doch… sie ist mit Dovydas auf derselben Wellenlänge, es stimmt eigentlich alles, außer… ja, außer. Die beiden versuchen es trotzdem, beginnen langsam, langsam eine Beziehung. Aber was heißt das eigentlich, eine Beziehung führen?

Asexualität existiert irgendwo im Zwielicht des queeren Spektrums – zumindest was die mediale Darstellung angeht. Der Begriff wird oft ungenau oder abwertend gebraucht, als würde der beschriebenen Person etwas fehlen, als sei sie unnahbar oder verklemmt, was natürlich kompletter Quatsch ist. Asexualität bedeutet nicht, keine Sexualität zu haben. Und doch scheint Asexualität so gar nicht ins (Mainstream-)Kino zu passen. Das schreckt vor explizitem Sex zwar zurück, preist die implizit sexuelle, monogame Beziehung aber dennoch als höchstes der Gefühle. Alles jenseits dieser Norm ist angeblich kompliziert und nur schwer nachvollziehbar. Marija Kavtaradzes Film ist schon deshalb frischer Wind in den Segeln des (queeren) Kinos, weil er Asexualität ernst nimmt, weil er einfühlsam mit seinen zwei Hauptfiguren umgeht und weil er keine einfach-kitschigen Lösungen anbietet.
Denn Dovydas’ Sexualität ist nichts, was sich durch die Kraft der Liebe ändern lässt oder geändert werden sollte – er erlebt Begehren anders als Elena, sucht anders ihre Nähe. Davon ausgehend untersucht der Film Beziehungsnormen und fragt: Was ist eine (romantische) Beziehung? Was ist Sex? Was ist Nähe? In der Beziehung von Elena und Dovydas offenbaren sich implizite, gesellschaftlich gelernte und am Ende einengende Vorstellungen von Begehren, Zuneigung und Männlichkeit.
Es gibt eine Szene, in der Elena für einen Auftritt ein Kostüm anzieht, das nicht für ihren Körpertyp gemacht ist – die Kleidung gewordene Vorstellung davon, wie eine Tänzerin auszusehen hat. Wäre da nicht das Kostüm, die Norm, würde es eigentlich ganz gut gehen.

Aber die Norm setzt sich fort, schwingt mit im Denken, im Sprechen und im Tun. Wenn Sex als absoluter Liebesbeweis gilt, wie beweist man Liebe, wenn man das Gegenüber scheinbar ständig zurückweisen muss? Wenn Sex als schönste, intimste Begegnung zwischen zwei Menschen verklärt wird, wie drückt man Begehren aus, das sich nicht im penetrativen Sex entlädt und das fluide ist, sich von einem auf den anderen Moment ändern kann? Liebe zu beweisen, Begehren auszudrücken, sich umzuentscheiden ist möglich. Die Hilflosigkeit beginnt beim verzweifelten Versuch, sich anzupassen, sich ins Kostüm, in die Hülle zu zwängen. Elena fühlt sich hintergangen, wenn Dovydas in der Dusche masturbiert. Dovydas neigt zu Eifersucht und wartet nur darauf, verlassen zu werden.

Elena spricht durch ihren Körper, sie drückt sich vor allem im Tanz aus und genießt die zwanglosen Berührungen ihrer Mittänzer*innen auf und jenseits der Matte. Dovydas kommt am besten mit Worten klar. Er ist weniger sinnlich als Elena, fühlt sich in den Gesten und Bildern der Gebärdensprache aber umso wohler. Daraus ergeben sich Momente, in denen die beiden sich in Blicken, in Worten und Gesten unglaublich nah sind. Es gibt eine Tanzszene mit drei Meter Abstand und klein angedeuteten Dance Moves, die intimer und liebevoller ist als jeder Slow Dance.
Dazu kommt die Kameraarbeit von Laurynas Bareiša, der Elena und Dovydas auf grobkörnigem 16 mm Film festhält, dessen Bilder unvollkommen-rau und zugleich weich, fast zärtlich sind. Die Bilder sind sehr taktil, fast zärtlich, ohne je voyeuristisch zu wirken. Erotik findet der Film anderswo, beim gemeinsamen Wäscheaufhängen zum Beispiel.

Am Ende (Spoiler!) lösen Elena und Dovydas ihre romantische Beziehung auf. Dabei – und das ist wichtig – stellt Regisseurin Marija Kavtaradze es nicht so dar, als sei Dovydas’ Sexualität das Problem. Dovydas und Elena trennen sich, weil sie nicht richtig miteinander sprechen können. Ihnen fehlen die Wort, sie kommunizieren nicht, was sie brauchen, was sie wollen und was nicht. Grund dafür sind die Mauern im Kopf. Denn wenn es einem niemand vorlebt, wie soll man dann wissen, was alles geht?
Obwohl Elena es vermisst, von Dovydas sexuell begehrt zu werden, genießt sie sexuelle Interaktionen, ob am Anfang des Films mit ihrem Date Vilius (Pijus Ganusauskas) oder in der Mitte des Films mit Dovydas nicht wirklich. Gelernte Erwartungen und tatsächliche Bedürfnisse vermischen sich hier. Erst die intime, erotische Szene am Ende den Films kostet sie wirklich für sich aus. Elena hat durch die Beziehung mit Dovydas gelernt, sich besser zu spüren. Und Dovydas? Die letzte Einstellung ist vielleicht die kontroverseste des Films: Dovydas alleine, gebärdet ein Liebeslied. Ist er etwa zur Einsamkeit verdammt? Statt einem eindeutigen Happy End fragt der Film lieber: Was ist ein Happy End? Zu zweit in den Sonnenuntergang reiten für immer und immer und immer? Oder aus dem Herzen von Liebe zu sprechen? Ist es vielleicht etwas ganz andere?