„Stories We Tell“ von Sarah Polley


"Stories we tell": Regisseurin Sarah Polley zeigt, dass die Wahrheit von der Sichtweise des Erzählers abhängt.

"Stories we tell": Regisseurin Sarah Polley zeigt, dass die Wahrheit von der Sichtweise des Erzählers abhängt. Foto: National Film Board of Canada

Intimer Scherbentanz

„When you’re in a middle of a story it isn’t the story at all, only a confusion, a dark roaring, a blindness, a wreckage of shattered glass and splinted wood, like a house {…} or a boat crushed by the iceberg. It’s only afterwards, when it becomes anything like a story at all, when you’re telling it to yourself or to someone else….“ (Margaret Atwood)

Geschichten beschreiben das Leben, das Leben schreibt Geschichten und wir sind ihre Erzähler. Sie trösten, unterhalten, beseelen und verklären. Warum, wie und was erzählt wird, hängt vom Erzähler selbst und dessen Betrachtung ab. Regisseurin und Schauspielerin Sarah Polley („Away from her„, „Take this Waltz„) glaubt, dass „Geschichten unsere Art sind, mit den Dingen umzugehen und Ordnung ins Durcheinander zu bringen“. Mit „Stories We Tell„, ihrem ersten Dokumentarfilm, geht die Kanadierin auf Spurensuche in ihrer eigenen Geschichte, einer Familiengeschichte, in deren Zentrum ihre früh verstorbene Mutter Diane Polley steht. Weit gefehlt, wer jetzt einzig die Aufarbeitung dieser tragischen Ereignisse erwartet.

Polleys Reise in die Vergangenheit entfaltet sich als Begegnung mit lange verborgenen Geheimnissen ihrer Mutter und vor allem den in der Familie erzählten Mythen darum, denen sie fünf Jahre lang auf den Fersen war. Fünf Jahre, in denen die Schauspielerin, Drehbuchautorin und Regisseurin es schaffte, das Geheimnis ihrer Biographie vor der Öffentlichkeit zu bewahren. Fünf Jahre, die aus einem persönlichen und zunächst nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Projekt einen kräftezehrenden und aufwühlenden Erkundungsprozess machten, der in einer einfühlsamen Reflexion über Familien und ihre Geschichten mündet. Und fünf lange Jahre, in denen ein paar kanadische Journalisten die Gerüchte um Polley nicht zu IHRER Story verwursteten, sondern sich diskret und respektvoll zeigten und warteten, bis sich die Regisseurin 2012 auf der Filmpremiere in Venedig dazu entschied, mit ihrer Story an die Öffentlichkeit zu treten.

Der Film ist weit davon entfernt, narzistische Nabelschau zu sein. Im Gegenteil. Ihre Erzählung – ein Mosaik aus beseelten Erinnerungsscherben, Erzählschnipseln, originalen Super-8-Aufnahmen und nachgedrehten Erinnerungsbildern – verdichtet sich zum universellen Reigen, einen Scherbentanz um Liebe, Sehnsucht, Nähe und Vergebung. Zuschauer werden sich nach dem Film viel mehr um die eigenen Geschichten drehen als um die Biographie der Kanadierin. Nicht zuletzt durch die bewegend literarischen Bilder, erzählt und vorgelesen von Michael Polley, wird der Film zur Blaupause unserer eigenen Geschichten. Wie Polley selbst müssen wir uns nur zurückziehen und lauschen. Denn wer Geschichten hören will, muss vor allem eins: Zuhören.

SuT