THE BRUTALIST von Brady Corbet

ONE FOR YOU ONE FOR ME
Seit wenigen Tagen werden die Vereinigten Staaten von Amerika wieder von einem Mann regiert, der es sich zur Hauptaufgabe gemacht hat, die Zuwanderung – ewiges Lebens- und Fortschrittselixier und grundlegendes Wesensmerkmal seines Landes – radikaler zu beschränken, als jeder andere Präsident vor ihm. Den USA, aus dem Fleiß, der Kraft und der Aufopferungsbereitschaft der Migranten geboren, droht der Kern ihrer Identität abhanden zu kommen. Über vier Jahrhunderte war Amerika ein Ort der Hoffnung, ein Versprechen an die Welt, an die Verfolgten und Ausgestoßenen, aber auch an die Visionäre, an Menschen mit Ideen und Plänen, die sie anderenorts nicht hätten verwirklichen können. Man nannte dies den „amerikanischen Traum“, wo ein Niemand es mit all seiner Tatkraft schaffen konnte, aufzusteigen und seinen Nachfahren den Boden für eine glorreiche Zukunft zu bereiten – so, wie es einst auch ein gewisser Friedrich Trump, aus dem pfälzischen Kallstadt kommend, getan hat.
Dass diese Idee von Amerika immer nur ein Teil der Realität war – noch dazu ein reichlich geschönter – das mussten im Laufe der Zeit auch Millionen Zugewanderte erleben, denen das Glück weniger hold war. Jene, die im Malstrom eines (relativ) ungezügelten Kapitalismus aufgerieben wurden oder an die Grenzen der Toleranz derer stießen, die schon ein, zwei Generationen vor ihnen angekommen waren, die eigene Herkunft vergessen oder verdrängt hatten und das Land nun als ihr Eigentum betrachteten. Ein großer Kuchen, von dem man kein Stück mehr, allenfalls ein paar Krümel, abzugeben bereit war. Von jenen, die schon vor den ersten Siedlern hier gewesen waren und jenen, die unfreiwillig in die Neue Welt verfrachtet wurden, ganz zu schweigen.
Der Zeitpunkt für die Veröffentlichung von THE BRUTALIST hätte kaum aktueller sein können. Bei den Filmfestspielen von Venedig frenetisch gefeiert und mit dem Preis für die beste Regie gewürdigt, kam der Film einen Monat vor Donald Trumps erneuter Machtübernahme in die amerikanischen Kinos – pünktlich genug, um dem „Make America Great Again“-Taumel einen fundierten Contrapunkt zu setzen und in der aktuellen Award Season zahlreiche Preise zu gewinnen und als Topkandidat in die anstehende Oscarverleihung zu gehen.
Brady Corbets 3,5-Stunden-Epos erzählt die Geschichte des fiktiven jüdisch-ungarischen Architekten Lázló Tóth (Adrian Brody), der – ein Holocaustüberlebender – den Trümmern der Alten Welt entfliehend, den verheißungsvollen Hafen von New York erreicht. Auf sich allein gestellt, kommt er zunächst beim entfernten Cousin Attila (Alessandro Nivola) unter, bevor der steinreiche Unternehmer Harrison Lee Van Buren (Guy Pearce) auf ihn aufmerksam wird und, fasziniert von der intellektuell-kreativen Aura Tóths, dem Gestrandeten ein gewaltiges Projekt anvertraut. Er soll zu Ehren von Van Burens verstorbener Mutter einen riesigen Gebäudekomplex errichten, der Bibliothek, Gemeindezentrum und Kirche zugleich ist.
Es ist für Lázló eine bezwingende Aussicht, nicht länger als Hilfsarbeiter Kohlen schippen zu müssen und stattdessen endlich wieder seiner eigentlichen Bestimmung folgend Gebäude, die zugleich Kunstwerke für die Ewigkeit sind, zu schaffen. Mit großem Eifer geht er ans Werk und entwirft eine kompromisslose Vision moderner Architektur, in deren Zentrum Beton als sichtbares und authentisches Baumaterial steht – ein Stil, den man später Brutalismus nennen wird. Kurz darauf treffen auch endlich Lázlós Frau Erzsébet (Felicity Jones) und seine schweigsame Nichte Zsófia (Raffey Cassidy) ein.
Erzsébet, eine frühere Journalistin, ist von ihrem Aufenthalt im Konzentrationslager spür- und sichtbar geprägt. Den Rollstuhl wird sie im Verlauf des Films kaum verlassen. Ihre Ankunft läutet die zweite Hälfte des Films ein, dessen Ton nun von vorsichtig optimistisch ins Gegenteil kippt. Der „amerikanische Traum“, daran lässt der Film keinen Zweifel, ist nur eine Geschichte, ein Märchen, das die Habenichtse zu Strebsamkeit anregen soll. Ein kleiner Wohlstand, ein wenig Glück scheint möglich. Doch zahlt man dafür mit Unterwerfung und Anpassung. Und den ganz großen Preis gewinnt nur, wer skrupelloser als alle anderen ist. So einer wie Van Buren, der Lázló, letztlich neidisch auf dessen visionären Geist, nach seiner Pfeife tanzen lässt. Van Burens missbräuchliches Verhalten korrumpiert schließlich auch Lázló, dessen Abgründe immer deutlicher hervortreten.
THE BRUTALIST ist eine gnadenlose Dekonstruktion des „amerikanischen Traums“. Das Drehbuch, von Corbet und seiner Frau Mona Fastvold verfasst, lässt sich viel Zeit. Wir lernen Tóth als einen Mann kennen, der sein Leben eigentlich schon hinter sich hat. Vom totalitären Grauen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgespuckt, erhält er eine zweite Chance und muss erkennen, auch in seiner neuen Heimat von Vorurteilen und Missgunst unterdrückt zu werden. Dass Tóth dieser neuen Heimat dennoch seinen Stempel aufdrücken und eine dritte Chance an einem anderen Ort wahrnehmen wird, gehört zu den verblüffenden Wendungen dieses meisterlichen Films. Denn in einer weiteren, sich langsam in den Film einschreibenden Geschichte, erzählt THE BRUTALIST auch von der Entstehung eines neuen Staates und liefert zudem eine schlüssige Erklärung für die Notwendigkeit dieser neuen Heimstatt.
Zu den erstaunlichsten Aspekten von THE BRUTALIST gehört aber auch seine schiere Existenz. Für Schauspieler Brady Corbet (Auftritte u.a. in FUNNY GAMES U.S. oder HÖHERE GEWALT) ist THE BRUTALIST nach CHILDHOOD OF A LEADER (2015) und VOX LUX (2018), zwei interessanten, von der Kritik aber durchwachsen aufgenommenen Werken, erst die dritte Regiearbeit. Die Finanzierung gestaltete sich äußerst schwierig. Ein 3,5-Stunden-Film über einen ungarischen Migranten – das klang für die meisten Studios nicht nach einer lohnenswerten Geldanlage. Am Ende konnte Corbet knapp 11 Millionen US-$ auftreiben, eine Summe, die neben den Ausgaben eines mittleren Hollywood Blockbusters, geradezu lächerlich wirkt. Umso erstaunlicher ist, was Corbet mit diesem schmalen Budget auf die Leinwand zaubert.
Gedreht in VistaVision erinnert THE BRUTALIST an die großen Epen einer längst vergangenen Epoche, als das Kino noch überlebensgroße Geschichten erzählen konnte, ohne dabei auf die Schauwerte computergenerierter Spezial-Effekte angewiesen zu sein. Stilistisch ist der Film dem Kino der 1970er Jahre verbunden. Dass Corbet kein klassisches Biopic inszeniert, sondern mit Lázló Tóth einen fiktiven Charakter geschaffen hat, lässt seiner Erzählung die nötige künstlerische Freiheit. Er kaschiert geschickt seine finanziell begrenzten Möglichkeiten und wird dabei von seinem exzellenten Kameramann Lol Crawley unterstützt. Der Film beginnt und endet jeweils mit verblüffenden, unsere gängigen Vorstellungen von Amerika auf den Kopf stellenden Einstellungen. Cutter Dávid Janscó hält den Film trotz seiner Länge stets im Fluss und lässt keine Langeweile aufkommen. Lobende Erwähnung soll auch Daniel Blumbergs fantastischer Score finden. THE BRUTALIST ist erst Blumbergs dritte Filmmusik. In ihrer Mischung aus moderner Klassik und Jazz stellt sie fast ein eigenständiges Kunstwerk dar und mündet am Ende in den besten Needledrop des gesamten Kinojahrgangs.
Hauptdarsteller und Oscarpreisträger Adrian Brody (THE PIANIST, 2002) stellt Tóth in der besten Performance seiner Karriere als unbeirrbar um seine Vision kämpfenden Künstler dar, den die Verzweiflung zunächst in die Heroinsucht treibt und der später an der Abhängigkeit von der Gunst seines übergriffigen Gönners zu zerbrechen droht. Pearce’ Van Buren ist ein unanständig wohlhabender Emporkömmling, der seinen Mangel an geistigem Format mit Ausbeutung und Respektlosigkeit ausgleicht. Jones’ Erzsébet dagegen ist Tóth intellektuell ebenbürtig und registriert früher als er die Kehrseite von Van Burens vermeintlicher Großzügigkeit. Und Joe Alwyn gibt als verzweifelt um die Anerkennung seines Vaters buhlender und dessen klassistische Überheblichkeit erbender Harry Lee Van Buren ein Quasi Porträt der Jugend des derzeitigen US-Präsidenten.
Eine überschaubare Kontroverse zum Einsatz von KI überschattet seit einigen Tagen den Erfolg des Films. Die Technik wurde verwendet, um Gebäudeentwürfe für die Schlusssequenz zu erstellen und den ungarischen Akzent von Brody und Jones anzupassen. Angesichts des kolossalen Gesamteindrucks des Films sollte diese moderate Verwendung einer nach wie vor umstrittenen Technik THE BRUTALIST aber nicht schaden. Brady Corbet ist mit THE BRUTALIST schon sein Opus Magnum gelungen – ein Film, der neben vielen anderen Dingen auch das schwierige Verhältnis des Künstlers zum Mäzen und damit auch Corbets eigene Position als Filmemacher in einer Industrie, die Kunst weniger schätzt als Kommerz, reflektiert.
THE BRUTALIST läuft seit dem 30. Januar im Kino.
Oscarnominierungen: Bester Film, Regie, Drehbuch, Hauptdarsteller, Nebendarstellerin, Nebendarsteller, Kamera, Filmschnitt, Production Design, Original Score.
Thomas Heil
THE BRUTALIST, Regie: Brady Corbet, Darsteller_innen: Adrian Brody, Guy Pearce, Felicity Jones, Joe Alwyn, Raffey Cassidy, Isaach de Bankolé, Alessandro Nivola, Emma Laird, Stacy Martin, Jonathan Hyde u.v.a.