„The Dreams of William Golding“ von Adam Low


"The Dreams of William Golding": Der Künster hinter der Dystopie.

"The Dreams of William Golding": Der Künster hinter der Dystopie.

Die Interpretation frisst die Kunst

Der enthauptete Piggy fällt schwer ins Wasser, er treibt davon – Ralphs Augen folgen dem Körper, die Grausamkeit einsaugend und gleichzeitig nicht begreifend. William Goldings Auseinandersetzung mit der menschlichen Natur und der menschlichen Selbstüberschätzung hat sich durch seinen Erstling „Herr der Fliegen“ (1954 erschienen) für immer in die Literatur und in den akademischen Betrieb gebrannt. Am Beispiel der wilden, unzivilisierten Jungs auf der Insel ist die ewige Frage nach der menschlichen Grundkonstitution Gut gegen Böse zu einem Grundpfeiler des Schul- und Universitätkanons geworden. Adam Lows Dokumentation „The Dreams of William Golding“ (GB, 2011) möchte nun dem Künstler hinter der Dystopie auf die Spur kommen. Das tut sie wort- und bildgewaltig – etwa mit Zitaten aus weiteren Werken Goldings wie „The Spire“ (1964) und „Pincher Martin“ (1956),  mit diversen Filmausschnitten, aber vor allem durch Interviews mit Verwandten, Literaturwissenschaftlern oder Mitautoren. Dabei versucht der Film, Goldings Werk biografisch zu kontextualisieren und zu erklären. Wir erfahren, dass Goldings Kindheit stark von den Gedankenwelten der religiösen Mutter (die vor allem an supernatürliche Erscheinungen glaubte) und Goldings atheistischem Vater geprägt war. Mit diesem familiären Hintergrund, so die Argumentation des Films, beginnt Goldings Obsession mit dem Verborgenen, dem latent Unheimlichen und Nicht-Fassbaren, dem absolut Anderen, die Golding zu seinen kargen, stark metaphorischen Romankonstrukten inspirierte.

Aber wir erfahren auch, dass Golding, der 1983 den Literaturnobelpreis erhielt, immer wieder mit seiner eigenen Bedeutung und Wirkungskraft haderte und sich in der Folge in den Alkoholismus flüchtete: Selbsthass und Geltungsbedürfnis lagen nahe beieinander. So traf Golding eine vernichtende Kritik an „The Spire“ einerseits so hart, dass er laut den Angaben seiner Tochter Judy Golding „nie wieder derselbe“ wurde – andererseits ließ er sich Jahre später seinen Ritterschlag auf dem eigenen Ausweis mit „Sir William Golding“ verewigen. Vor allem thematisiert „The Dreams of William Golding“ jedoch die Schicksalsschläge, die Golding literarisch beschäftigt haben: ein Schiffsunglück, der psychische Zusammenbruch seines Sohnes, eine unerwiderte Liebe, von der nicht klar ist, ob es sie jetzt eigentlich gab oder nicht. Dazwischen immer wieder Traumfragmente. Golding führte akribisch Traumtagebuch – die von der Tochter vorgetragen werden. Diese alptraumhaften Labyrinthe mit häufig blutigem Ausgang, die eine weitere Inspiration gewesen sein könnten oder im Niederschreiben schon längst Fiktion geworden waren, geben der Dokumentation ihren Titel und versuchen Goldings (Ver)Stimmungen in Leben und Literatur aufzugreifen.

Der Film bemüht sich eifrig, keinen Aspekt auszulassen und so mangelt es denn „The Dreams of William Golding“ auch nicht an Facettenreichtum. Jedes Zitat ist mit beschaulich-dramatischer, klassischer Musik und einem passenden, meist landschaftlichen Motiv unterlegt, so dass Erinnerung und Pathos oft fließend ineinander übergehen. Das ist gut gemeint, wirkt aber kitschig und erinnert unangenehm an andere BBC-Produktionen, die möglichst jedes Ereignis bebildern wollen und dabei in ihrer blumigen Visualität ertrinken. Das eigentliche Ereignis – die Worte und die Sprache Goldings, die doch so dringlich und unmittelbar sind – gerät dabei fast zur Nebensache.

Schlimmer wiegt allerdings die politische Brisanz, die Golding quasi nebenbei angedichtet wird. Der Film wird am Beginn und gegen Ende durch Szenen der Londoner Unruhen von 2011 eingerahmt – und mit Worten, die die andauernde Aktualität Goldings betonen sollen. Angesichts der Fokussierung auf Goldings Biografie, seiner gewählten und doch unfreiwilligen gesellschaftlichen Isolation sowie der Emphase der privaten, familiären Ereignisse, wirkt dieser Versuch einer zeitgemäßen Klammer geradezu albern und oktroyiert. Egal wie zeitlos Goldings Prosa nun eigentlich sein mag (vor allem deutet die Dokumentation so die Unruhen als unmotivierten Ausbruch von Gewalt – eine fragwürdige, politische Behauptung). Authentischer und weniger konstruiert ist da schon das Archivmaterial, das Golding am Kiesstrand in der Nähe von Cornwall zeigt. Der lachende Golding seziert das Meer als Metapher und wirft es dann wieder in die Wellen: „Das Meer ist einerseits das Unbewusste und andererseits das ewige Meer ins uns selbst, aus dem wir schöpfen (…) das Meer steht also nicht nur für eine einzige Sache, sondern ist vielmehr ein Bild für all das, was der menschliche Geist entdecken kann.“ Und irgendwann sehen und lesen wir das Meer, das Piggy hinfort spült und mit ihm alle Illusionen von Moral und Menschlichkeit und wir legen das Buch zur Seite, aber Golding bleibt.

Marie Ketzscher