THE ZONE OF INTEREST von Jonathan Glazer


THE ZONE OF INTEREST © LEONINE Distribution
THE ZONE OF INTEREST © LEONINE Distribution

The Sound of Death


Es sind die Schreie, das ständige Rauschen der Öfen, der indifferente Klang des Todes, die Einem noch lange, nachdem man diesen Film gesehen und vor allem gehört hat, in den Ohren nachklingen. Wie lebt es sich inmitten des Grauens eines Menschheitsverbrechens? Wie kann man das allgegenwärtige Leid, das Foltern, das Morden ausblenden und ein „normales Leben“ führen, Feste feiern, sich lieben, Kinder großziehen?

Wie konnten die Menschen von Weimar „nicht mitbekommen“, dass vor den Toren ihrer Stadt ein Konzentrationslager, Buchenwald, existierte? Wie konnten die Einwohner von Oranienburg tausende von ausgemergelten, kahl geschorenen und in gestreifter Kleidung dahin trottenden Menschen „nicht sehen“, die täglich durch ihre Straßen vom KZ Sachsenhausen zu den jeweiligen Stätten ihrer Pein und Zwangsarbeit getrieben wurden. „Das haben wir nicht gewusst“ lautete die Ausrede der Deutschen nach dem Krieg. Die millionenfach aus rauen, erschöpften, erstaunten, ungläubigen, sich tatsächlich aber gegenseitig bestätigenden Kehlen vorgetragene Lüge sollte den Menschen wohl helfen, das Leid und den Schrecken des fürchterlichsten, von ihnen selbst oder zumindest in ihrem Namen vom Zaun gebrochenen Krieges zu vergessen.

Ein bemerkenswerter Fall von kollektiver, fast alle Bevölkerungsschichten erfassender Amnesie. Ein Ausblenden, Verschweigen und Rechtfertigen – eine generelle Haltung, die das Durchführen des kolossalsten, grauenvollsten und rücksichtslosesten Verbrechens der Menschheitsgeschichte rückblickend überhaupt erst ermöglicht hatte.

Jonathan Glazers Film THE ZONE OF INTEREST, der dieser Tage in die deutschen Kinos kommt, zeigt eine Familie inmitten des Grauens. Es ist eine „normale“ Familie (Vater, Mutter, fünf Kinder), die es sich dort schön eingerichtet hat. Das Haus ist sauber. Die seltsam verschwiegenen und mit ständig gesenktem Kopf durchs Haus wuselnden „Angestellten“ sorgen dafür. Der Garten ist groß und gepflegt. Die Herrin des Hauses kümmert sich akribisch um all die Pflanzen und das geräumige Gewächshaus. Die Kinder können im Pool plantschen. Der Papa hat ihnen sogar eine Rutsche bauen lassen.
Hin und wieder gibt es Ausflüge an einen nahe gelegenen Fluss. Dort kann man baden, angeln oder mit dem neuen Kanu, das Papa zum Geburtstag geschenkt bekam, entlang paddeln. Es ist eine Art Idylle, in der diese Familie lebt, die sich wohl viele Deutsche gewünscht hatten nach den schwierigen Jahren der ständigen Krisen, der Wirtschaftsnöte, des Hungers und der Arbeitslosigkeit, vorher, bevor der „Führer“ an die Macht kam, in der Zeit der Demokratie.

Und doch ist es keine normale Familie, die Glazer bei ihren alltäglichen Verrichtungen zeigt. Der Vater ist Rudolf Höß, der Leiter des Vernichtungslagers Auschwitz. Höß ist kein Bilderbuchnazi, dem geifernd und ständig brüllend das Böse aus jeder Pore dringt. Er ist ein Familienvater, der sich um seine Lieben sorgt. Der seiner Frau des Öfteren schöne Geschenke von der Arbeit mitbringt. Der für seine Kinder fröhliche Geburtstagsfeiern organisiert, mit ihnen entspannte Stunden am Fluss verbringt und ihnen nachts, wenn sie nicht schlafen können (warum wohl?) mit sanfter Stimme aus „Hänsel und Gretel“ vorliest.
Auch Gattin Hedwig ist ein Organisationstalent. Sie hat Haus und Garten herrichten lassen und überlässt den „Angestellten“ hin und wieder auch etwas von den schönen Mitbringseln ihres Mannes („aber jede nur ein Stück“). Haus und Garten der Familie Höß befindet sich neben dem KZ. Eine schnöde Mauer trennt das Idyll von der Hölle dahinter. Hedwig hat Wein pflanzen lassen, der nach und nach die Mauer bedecken, sie verschwinden lassen soll.

Glazer hat sich entschieden, seinen Film quasi dokumentarisch anzulegen. Über weite Strecken verzichtet er auf eine klar erkennbare Dramaturgie. Vielmehr lässt er das Leben der Höß’ an uns vorbeiziehen. Kameras, die im ganzen Haus „versteckt“ sind und die Schauspieler bei scheinbar banalen Aktivitäten zeigen, vermitteln beinahe einen „Big Brother“ Eindruck.
Ein bisschen Drama gibt es für die Höß’ dann doch, als Rudolf nach Oranienburg abkommandiert wird, um dort die Aufsicht über alle KZ im Reich übertragen zu bekommen und, wie sich herausstellt, die so genannte Ungarn-Aktion, die planmäßige Ermordung von ca. 600.000 ungarischen Juden im Jahr 1944, zu organisieren. Ein „Meisterstück“ für das Höß als vormaliger Leiter der effizienten Mordmaschinerie Auschwitz geradezu prädestiniert ist.
Für Hedwig droht jedoch eine Welt zusammenzubrechen. Sie weigert sich, ihr Heim in Auschwitz zu verlassen, ihr kleines Paradies, das sie sich so mühevoll errichtet haben. War es nicht das, was der „Führer“ wollte, was er ihnen allen versprochen hatte?

Jonathan Glazers THE ZONE OF INTEREST ist ein perfides Meisterwerk. Man sollte mit dem M-Wort nicht allzu inflationär umgehen. Hier aber ist es ohne jeden Zweifel angebracht. Nach all den Jahrzehnten, in denen wir immer wieder, immer mehr und immer Neues über den Holocaust erfahren und gelernt haben, nachdem Claude Lanzmans SHOAH (1985) neun Stunden lang die Geschichte und ihre Zeugen befragt hat, nachdem die Fernsehserie HOLOCAUST (1978) auch in Deutschland für einen Erinnerungsschub gesorgt hat und nachdem mit Steven Spielberg (SCHINDLERS LISTE, 1993) und Roman Polanski (THE PIANIST, 2002) ein Nachfahre von Holocaustopfern und ein direkt Betroffener publikumswirksam (und oscargekrönt) den Mord an ca. 6,5 Millionen europäischen Juden zum Gesprächsthema im Feuilleton, aber auch in Schulen und am Arbeitsplatz machten, nach Unmengen an Filmen, Büchern, Hörspielen, Kunstwerken und Musikstücken, hat Glazer hier nochmal eine neue, wenngleich erstaunlich nahe liegende Perspektive gefunden. Und eine sehr aktuelle noch dazu.
In einer Zeit, in der europaweit (und nicht nur dort), vor allem aber in Deutschland, immer noch und ewig das Land der Täter, immer mehr Menschen sich ganz ungeniert zu rechtem bis rechtsextremen Denken bekennen und in demokratischen Wahlen für Parteien stimmen, die genau diese demokratischen Wahlen abschaffen wollen und darüber hinaus die Erinnerung an den Holocaust diskreditieren, sie lächerlich machen, negieren, leugnen und am liebsten in einer „erinnerungspolitischen 180 Grad Wende“ (O-Ton der Faschist Björn Höcke) abschaffen wollen, wirft Glazer einen unverstellten Blick auf die Täter, ohne sie hollywoodmäßig zu dämonisieren und ihnen somit das alltägliche, das erschreckend „normale“ ihrer grausamen Empathielosigkeit zu nehmen.
Die Familie Höß ist ein Abziehbild der „guten deutschen Familie“, wie sie im so genannten Dritten Reich propagiert wurde und wie sie jetzt wieder von der AfD und Anderen zum Ideal erhoben wird.
Der sanfte Christian Friedel mit seinen weichen Gesichtszügen und die immer wieder beeindruckend präzise Sandra Hüller brillieren als die „netten“ Höß’ von nebenan. Während er Massen mordet, hält sie ihm den Rücken frei, fordert aber auch beharrlich den Bestand ihres kleinen Reiches.
Bemerkenswert ist auch ein Kurzauftritt von Imogen Kogge als Hedwigs Mutter, die der Familie einen Besuch abstattet, den Garten bewundert und sich mit ihrer Tochter über den Kosenamen amüsiert, den Rudolf seiner Frau in intimen Stunden gibt: die „Königin von Auschwitz“. Doch kann diese einfache, alte Frau nicht darüber hinweg sehen, was hinter der Gartenmauer geschieht. Ihre überstürzte Abreise bringt Hedwigs sorgsam gepflegte Contenance kurz zum Wanken und lässt das menschenverachtende Scheusal aufblitzen, das ständig hinter der Fassade der freundlichen Hausfrau lauert.
Und für die Kinder Höß ist dies die ganze Welt. Da wird dann eben mal mit ausgeschlagenen Goldzähnen gespielt oder der kleine Bruder ins Gewächshaus gesperrt, während nebenan Tausende in die Gaskammern getrieben werden. Da muss man auch mal eine aufwendige Waschprozedur über sich ergehen lassen, weil man eben noch in einem Fluss gebadet hat, der sich plötzlich (asch)grau gefärbt hat.
Auf der Bildebene ist Glazers Film kühl und analytisch beobachtend. Nur für zwei kurze Szenen verlässt er die Familie Höß und zeigt in traumhaften, mit Wärmebildkameras gefilmten Einstellungen ein polnisches Mädchen, das des nachts Obst für die Lagerinsassen versteckt. Ein beinahe surrealer, außerweltlicher Einbruch der Menschlichkeit in die hermetisch abgeschlossene Welt der Familie, denn auch von Rudolfs Arbeit, vom Schrecken hinter den Mauern von Auschwitz, dringt visuell nichts in diesen Film.
Doch hat Glazer mit THE ZONE OF INTEREST eigentlich zwei Filme gedreht. Einen zum Sehen und, fast noch wichtiger, Einen zum Hören. Das Soundwork in diesem Film ist phänomenal und entfaltet seinen ganz eigenen Horror. Vom Zwitschern der Vögel, das die hübsche erste Einstellung des Films umrahmt, gleitet die Tonebene schon bald in dieses ständige, mal leisere, mal lautere, aber eben omnipräsente Rauschen über, in dem sich verschiedenste Geräusche zu einer Kulisse des Todes vermischen. In manchen Momenten lässt sich kaum unterscheiden, ob die Schreie von den fröhlich sich im Pool vergnügenden Kindern oder vom unsäglichen Leid hinter der Mauer stammen. Das erinnert an einen anderen starken Holocaustfilm der jüngeren Vergangenheit. In László Nemes’ SON OF SAUL (2015), der einem für das Sonderkommando in Auschwitz arbeitenden Juden folgt, wird der Horror ebenfalls hauptsächlich über die Tonebene transportiert.
Zum Ende des Films, in seinen letzten Minuten, hat Glazer einen weiteren Kniff parat, einen Twist, der hier nicht verraten werden soll, der dem Film noch eine weitere Ebene hinzufügt. Für den Briten, der in den 1990ern mit berauschenden Musikvideos (Massive Attack, Jamiroquai, Radiohead, UNKLE u.a.) und Werbeclips berühmt wurde, ist THE ZONE OF INTEREST erst der vierte Spielfilm. Nach einer Gangsterfarce (SEXY BEAST, 2000), einem Mysterythriller (BIRTH, 2004) und einem Science Fiction Rätsel (UNDER THE SKIN, 2013) ist es sein bislang erfolgreichster Film. In Cannes gehörte THE ZONE OF INTEREST im vergangenen Mai neben ANATOMIE EINES FALLS (ebenfalls mit Sandra Hüller) zu den Highlights des Wettbewerbs und wurde mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet. Als britische Produktion wurde THE ZONE OF INTEREST für den Oscar für den besten nichtenglischsprachigen Film (International Feature Film) eingereicht und wird diesen Preis in wenigen Tagen sehr wahrscheinlich auch gewinnen. Zusätzlich ist er für vier weitere Oscars nominiert, u.a. auch für seinen Ton. Neben dem Sound Departement und den Schauspielern sei an dieser Stelle noch die Arbeit von Łukasz Żal und Mica Levi hervorgehoben.
Der Pole Żal, der schon für die exquisiten Bilder in IDA (2013), COLD WAR (2018) und I’M THINKING OF ENDING THINGS (2020) verantwortlich war, erzählt die Geschichte in ruhigen, oft statischen, nur selten bewegten, dafür umso intensiveren Einstellungen. Mica Levi, die schon bei UNDER THE SKIN für Glazer komponierten, haben für THE ZONE OF INTEREST einen dissonanten, verstörenden Soundtrack geschaffen, dem die ersten und die letzten Minuten des Films gehören. Ansonsten wird die Musik Mica Levis im Film nur gelegentlich, dann aber mit umso stärkerem Effekt eingesetzt.

Jonathan Glazer, der auch das Drehbuch verfasst hat und von Martin Amis’ Roman nur die Grundprämisse übernahm, ist mit THE ZONE OF INTEREST ein Film gelungen, der lange nachwirkt. Ein Kunstwerk, das mit klinischer Präzision tief ins Herz der Finsternis vorstößt und sein Publikum verstört oder beunruhigt, aber ganz bestimmt nicht kalt zurück lässt.

Oscarnominierungen: Bester Film, Regie, Drehbuch, Ton, International Feature Film

THE ZONE OF INTEREST, Regie: Jonathan Glazer, Darsteller_innen: Christian Friedel, Sandra Hüller, Imogen  Kogge, Julia Polaczek, Johann Karthaus, Luis Noah Witte, Nele Ahrensmeier, Lilli Falk u.“