„Tschick“ von Fatih Akin


tschick_plakatMärchenhafter Roadtrip durch die ostdeutsche Provinz

Endlich wurde er verfilmt, der mehr als 2,2 Millionen Mal verkaufte und mit zahlreichen Preisen bedachte Kultroman des 2013 verstorbenen Wolfgang Herrndorf. Obwohl erst 2010 erschienen, ist der Roman schon zur Pflichtlektüre an vielen deutschen Schulen geworden, wurde fürs Theater adaptiert und war in der Spielzeit 2014/15 sogar das meistgespielte Stück an deutschen Bühnen. Wenn Romane mit Kultstatus verfilmt werden, fällt es leicht, die Verfilmung zu verurteilen. Schließlich hat man sich sein eigenes Bild der Figuren gemacht, das vielleicht so gar nicht mit dem übereinstimmen mag, das man auf der Leinwand zu sehen bekommt. Doch Fatih Akin, selbst Kult geworden durch preisgekrönte Filme wie „Gegen die Wand“ (2004) und „Soul Kitchen“ (2009), gelingt ein Film, der dem Roman treu bleibt und trotzdem auch als eigenständiges Kunstwerk funktioniert.

Maik Klingenberg (Tristan Göbel), der 14-jährige Sohn reicher Eltern, ist unbeliebt in seiner Klasse – spätestens seit er vor der ganzen Klasse einen Deutschaufsatz vorgelesen hat, in dem er über das Alkoholproblem seiner Mutter schreibt, die „selbst mit einer Flasche Wodka intus“ noch die Vereinsmeisterschaften im Tennis gewonnen hat. Seitdem wird Maik in der Schule „Psycho“ genannt und Tatjana, das schönste Mädchen der Klasse, will natürlich nichts von „Psycho“-Maik wissen. Die Sommerferien verbringt Maik allein am Pool der Familienvilla in Berlin-Marzahn. Sein Vater (Uwe Bohm), ein gescheiterter Immobilienhändler, vergnügt sich mit seiner jungen Assistentin „auf Geschäftsreise“ und seine Mutter (Anja Schneider) ist wieder einmal auf der „Beautyfarm“, die in Wahrheit eine Entzugsklinik ist. Maiks größte Sorge ist, dass er nicht zu Tatjanas Party eingeladen ist. Da taucht Tschick (Anand Batbileg), der neue Mitschüler, der „Asi-Klamotten“ trägt, in der Schule Wodka trinkt und angeblich Kontakte zur Russenmafia hat, bei Maik auf – mit einem geklauten Lada. Eigentlich wollen die beiden Außenseiter nur eine Runde drehen, doch dann beschließen sie, „in die Walachei“ zu fahren – und ihr Abenteuer beginnt.

Nicht nur auf Herrndorfs Blog „Arbeit und Struktur„, sondern auch im Roman „Tschick“ wird deutlich, dass er ein Cineast war. Der Roman hat filmischen Charakter und ist wie für die Leinwand geschrieben. Fatih Akin, der ursprünglich gar nicht als Regisseur für die Verfilmung von „Tschick“ vorgesehen war, hatte nur sieben Wochen Zeit, um sich auf den Dreh vorzubereiten, nachdem ein anderer Regisseur abgesprungen war. In dieser kurzen Zeit schrieb er sogar das Drehbuch gemeinsam mit Lars Hubrich und Hark Bohm noch einmal um.
Erwachsenwerden, Freundschaft, erste Liebe, familiäre Probleme, Freiheit, Homosexualität – all diese Themen enthält der Roman. Akin konzentriert sich in seiner Verfilmung vor allem auf die Freundschaft zwischen Maik und Tschick und auf Maiks Gefühle für Tatjana, die nicht erwidert werden.

Der Film ist eine Kombination aus Coming-of-Age-Film und Roadmovie, in dem die Reise der Protagonisten deren Suche nach Freiheit und Identität spiegelt. Beide Genres eignen sich hervorragend dazu, die psychologische Entwicklung der Figuren darzustellen. Obwohl Maik eher zögerlich und verträumt und Tschick dagegen draufgängerisch ist, entwickelt sich zwischen den beiden eine besondere Freundschaft, durch die Maik selbstbewusster wird. Auch seine Schwärmerei für die unerreichbare Tatjana verändert sich, als er während der Reise Isa (Nicole Mercedes Müller) begegnet.
Akin war es wichtig, Schauspieler auszuwählen, die so jung sind wie Maik und Tschick – und nicht jünger spielen. Man glaubt Tristan und Anand, die während des Drehs erst 13 Jahre alt waren, wenn sie hinter dem Lenkrad des Lada versinken und ihn auf unbeholfen-übermütige Art steuern. Für Tristan ist es die erste große Hauptrolle und für Anand die erste Rolle überhaupt. Gerade wegen ihres Alters wirken die beiden so authentisch und schaffen es, die Zuschauer mit ihrem intuitiven Spiel zu berühren. Sie finden instinktiv den richtigen Ton – eine Mischung aus Naivität und Weisheit, Unsicherheit und Übermut.

Akin suchte lange nach passenden Drehorten und fand im Osten Deutschlands Seen, Alleen, Wälder und Felder, die in warmen, sommerlichen Bildern Eingang in den Film fanden und die Orte bilden, an denen Maik und Tschick Freiheit spüren. Ein entscheidender Moment im Roman ist für Akin der, als Maik und Tschick nachts in den Sternenhimmel schauen, über das Universum philosophieren und sich vorstellen, auf einem dieser Sterne würden gerade zwei Jungs das Gleiche erleben wie sie. Diese Passage beeindruckte Akin so sehr, dass er sich für die Verfilmung von „Tschick“ bewarb. Im Film liegen Maik und Tschick in einer sternenklaren Nacht allein unter Windrädern.

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