Interview mit „Alleine Tanzen“-Regisseurin Biene Pilavci

Wie stark prägt uns die eigene Familie?


"Alleine tanzen"-Regisseurin Biene Pilavci.

"Alleine tanzen"-Regisseurin Biene Pilavci.

Mit „Alleine Tanzen“ erzählt Regisseurin Biene Pilavci die Geschichte ihrer Familie. Und das ist keine schöne Geschichte. Körperliche Gewalt und ein liebloser, respektloser Umgang miteinander bestimmen ihre Kindheit. Die Eltern kommen in den 1970er aus Mittelanatolien nach Deutschland und ziehen ihre fünf Kinder vor allem mit Schlägen groß. Die Liste der Grausamkeiten ist lang: Die Mutter wirft mit einem Küchenmesser nach einer ihrer Töchter und verletzt sie schwer. Der vierjährige Sohn wird vom Vater dazu angestiftet, die Mutter mit einem Stahlrohr zu schlagen. Eine der Töchter wirft dem Vater sexuellen Missbrauch vor, ebenso die Mutter, so dass der Vater schließlich wegen Vergewaltigung in der Ehe und anderer Strafdelikte verurteilt und in die Türkei abgeschoben wird. Biene Pilavci nimmt früh Reißaus – mit gerade einmal zwölf Jahren flieht sie in ein katholischen Mädchenheim und bleibt dort bis zur Volljährigkeit. Doch die eigene Geschichte lässt sie nicht los. Jetzt läuft ihre beeindruckende Dokumentation, die gleichzeitig der Abschlussfilm ihres Regiestudiums ist, im Wettbewerb von achtung berlin. Wir trafen Regisseurin Biene Pilavci zum Gespräch an ihrer Ausbildungsstätte, der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb).

Wann und wie ist die Idee zu der Dokumentation entstanden?
2005 habe ich als Übung während des Studiums einen kurzen Dokumentarfilm über das Familienleben meiner Schwester Ilknur gedreht. Seitdem keimte in mir die Idee, einen tiefer gehende Film über meine Familie zu erzählen, in dem ich entscheidenden Fragen nachgehe: Weshalb will mein Bruder Ali unserem Vater bei der nächsten Gelegenheit „die Fresse poliere““ – finanziert ihm aber gleichzeitig die Hochzeit mit seiner zweiten Frau in der Türkei? Wieso bin ich in den Augen meiner Geschwister immer „die starke Unabhängige, die ihr Ding durchzieht“, kann mich aber innerlich nicht von meiner Familie lösen? Wie stark prägt uns alle unsere Familie? Wie treffe ich meine Entscheidungen und weshalb? Diese Fragen bestimmen „Alleine Tanzen„.

Wie ist es Dir gelungen, Deine Familie davon zu überzeugen, bei dem Film mitzumachen und zwischendrin nicht abzubrechen?
Durch transparente Überzeugungsarbeit. Ich habe ihnen von Anfang an gesagt, was ich mir wünsche und dass der Film vielleicht später einmal ins Kino kommt. Zwischendrin habe ich ihnen auch das Material gezeigt, so wussten sie immer, was passiert. Zudem geschahen gerade positive Dinge in meiner Familie, so dass es den einzelnen Familienmitgliedern leichter fiel, retrospektiv zurückzublicken. Ich selbst habe während der Dreharbeiten und auch im Schnitt so gut wie täglich daran gedacht, abzubrechen. Mich hat es stark mitgenommen, dass die alten Verhaltensweisen und Rollenbilder innerhalb der Familie auf einmal wieder so präsent waren. Da durchzubrechen und ernst genommen zu werden, ist schwierig.

Dein Bruder Ali ist der wohl emotionalste Protagonist Deines Films. Seine wiederholte Beteuerung, dass er es bereut, eure Mutter nicht umgebracht zu haben, haben mich als Zuschauer schockiert. Dich auch?
Dann wird es dich auch schockieren zu hören, dass das bei uns der normale Umgangston ist. Der Kern ist, dass man bei uns in der Familie nach jeglichen Formen von Liebe und Anerkennung schon immer gründlich suchen musste. Heute noch haben wir damit unsere Schwierigkeiten. Denn uns und auch unseren Eltern wurde nichts dergleichen vorgelebt. Ich empfand meine Familie früher als normal, weil ich es ja nichts anders kannte. Aber mit der Zeit, im Vergleich mit Freunden oder mit Familienbildern, die über Film und Bücher transportiert werden, habe ich bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Dass es eben nicht normal ist, wenn es einem egal ist, die Gefühle anderer zu verletzen. Bei uns in der Familie fehlte es völlig an Respekt und Anerkennung. Doch schlussendlich sind auch wir menschliche Wesen und bekanntlich ist das Gefühl nach Liebe ein menschliches Grundbedürfnis. Auf dem Weg der emotionalen Kompensation sind wir zutiefst menschlich. Das sind nicht immer schöne Bilder. Aber das ist eine Wahrheit, die ich anerkenne und vor der ich mich zutiefst verneige.

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