38. Festival international du film d’animation d’Annecy

Das Annecy Blog 2014


Szene aus "Miniscule" von Hélène Giraud und Thomas Szabo.

Szene aus „Miniscule“ von Hélène Giraud und Thomas Szabo.

Tag 3 – Rencontre Annecy

Der gezwirbelte Schnurrbart bebt begeistert. Er ist also auch zurück: Der Animationsmagier. Vor zwei Jahren hat Stefano den Alleinunterhalter gemacht – ein Animator, der unbedingt ein Magier sein wollte, mit Gummibänder-Tricks und anderen Kunststückchen. Vor dem finnischen Empfang am See (ein Zelt, dass einfach nicht zur finnischen Sauna werden wollte, aber in dem es zumindest Vodka gab) hatte Stefano seinen ungewöhnlichen Karrierewunsch erläutert. Er passte zu ihm wie das Croissant in den Mund.

Nun sitzt Stefano ein paar Reihen vor mir, kehlig lachend, Papierflieger schmeißend, und es wird dunkel und der Film beginnt. Es ist „Minuscule„, die Erfolgsserie von Futurikon, ein Kassenschlager in Frankreich, der es nun auch dank der Regisseure Hélène Giraud und Thomas Szabo als Langfilm auf die große Leinwand geschafft hat. „Miniscule“ transformiert den klassischen Natur- und Tierfilm in ein Genre, das man vielleicht „Animierte Tierfilmparodie“ nennen könnte: Die Landschaftsaufnahmen sind real, live-action, doch die Tiere sind allesamt computeranimiert, full CG.

Minuscule“ erzählt seine Story aus der Perspektive eines jungen Marienkäfers, der seiner Familie abhanden kommt. Der Marienkäfer begegnet einer Gruppe Ameisen, die eine Box mit Zucker findet und zum Bau zurück trägt. Er schließt eine enge Freundschaft mit dem Anführer der Gruppe und muss bald mithelfen, die Zuckerbox gegen eine bösartige Form der Roten Ameise zu verteidigen. So weit, so gut. Die Geschichte kennt man tatsächlich aus jedem x-beliebigen Naturfilm, den man lieber schnell weiterzappt. Doch die Regisseure und Animatoren haben sich wunderbare originelle Dinge einfallen lassen. So gibt es keinen Dialog in „Minuscule„, die Verständigung findet – zugegebenermaßen kindergerecht – in unverständlichen Lauten statt. Darüber hinaus besitzt jedes Insekt ein ihm eigenes Motorengeräusch, sodass eine viel frequentierte Blumenwiese plötzlich wie eine italienische, fünfspurige Straße klingt. Das so entstehende auditive und visuelle Erlebnis ist unglaublich beeindruckend: Wahnsinnige Bergkulissen, in denen rote Ameisenarmeen kriechen, ein kristallklarer Wasserfall, in dem eine CG-Fisch den Ameisen hinterher jagt. Vielleicht wäre die Grundidee von „Minuscule“ trotz seiner unglaublichen Freude am Detail und seinen satten Bildern erschöpft , doch der Humor und die Geschichte der besonderen Freundschaft zwischen Marienkäfer und Ameisen trägt den Film problemlos über die Spielfilmlänge. Als das Licht wieder langsam angeht, fühlt man sich, als hätte man tatsächlich nicht nur einen Mikrokosmos, sondern eine ganz neue Welt entdeckt.

Ich leihe mir von der Fahrradstation ein Fahrrad und fahre durch die Gassen und Straßen von Annecy zum nächsten Kino durch die unglaubliche Wärme – jeder Kinosaal ist die Rettung vor dem sicheren Hitzetod. Es ist ein abgelegenes Kino, in dem vor allem alte Leute sitzen und junge Menschen, die wohl zum ersten Mal in Annecy sind. Der richtige Annecy-Festivalbesucher, so sagt man mir, geht nur in die Kinos in der Innenstadt – alles andere wäre zu weit vom Café des Arts entfernt, in dem sich alles trifft, mittags, nachmittags, abends.

Im Kino dann das Gegenprogramm zum opulent-stillen „Minuscule„: „Truth has Fallen„, ein dokumentarisches Essay, halb Animations- und halb Realfilm von Sheila Sofian, der außerhalb des Wettbewerbs läuft. „Truth has Fallen“ möchte ein aufklärerisches Statement gegen die Strafverfolgung in den USA sein und gegen die Todesstrafe, außerdem plädiert er für DNA-Testverfahren und für die Unschuldsvermutung, die in den USA quasi durch das Jury-System seine Gültigkeit verliert. Das Publikum verfolgt die Geschichten dreier unschuldig zu lebenslänglich verurteilten (ehemaligen) Gefangenen, die mittels einer Farbe-auf-Glas (Paint on Glass) Technik umgesetzt wurde. Es erfährt in Live-Action-Sequenzen von den Organisationen und Personen, die sich für die Gefangenen einsetzen, Faktisches und Emotionales. Die Bilder wechseln quasi ständig, ebenso wie die Stimmen aus dem Off, die das Publikum für sich einnehmen wollen. Der Stilmix ist leider in diesem Fall zum Scheitern verurteilt. Hier geht einfach alles durcheinander, so dass man am Ende nicht mehr weiß, wer was sagt, welches starke Bild nun im Kopf bleiben soll, sprich: Was eigentlich die These und Argumentationslinie des Films ist, außer eben: eine Anklage zu sein.

Ich radle irgendwann zurück in die Altstadt – das Open-Air am See zeigt „Paranorman“ und die Menschen schauen im Dunkeln fast aus wie kleine Insektenstämme, wimmelnd. Vor dem Café des Arts die lustige, betrunkene, rothaarige Journalistin, die man auch immer überall sieht. Außerdem drei Schotten, die mir ihr Land schmackhaft machen wollen. „Was ist denn der beste schottische Filme, der jemals gemacht wurde?“, frage ich sie also. Die drei überlegen fieberhaft. „Braveheart?“ fragt dann der jüngste Schotte, der zum Rock ein schwarzes T-Shirt mit weißen Herzchen trägt. Wir lachen laut, dann trinken wir Whisky. Aus der Menge winkt der Magier.

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