38. Festival international du film d’animation d’Annecy

Das Annecy Blog 2014


Animationsfilm-Expertin Marie Ketzscher arbeitet beim FMX in Stuttgart und besucht für Berliner Filmfestivals das weltweit größte Animationsfilm-Festival in Annecy.

Animationsfilm-Expertin Marie Ketzscher arbeitet für die fmx in Stuttgart und besucht für Berliner Filmfestivals das weltweit größte Animationsfilm-Festival in Annecy.

Tag 6 – Das große Finale

Annecy endet so französisch, wie nur irgendwie möglich: Am Wochenende beginnen flächendeckende Bahnstreiks, die für zig Zugausfälle und Verspätungen sorgen. Am Bahnhof sieht man lauter Leute auf ihren Koffern, mit Filmplakaten und Annecy-Taschen, die nicht mehr in die reale Welt zurück können. Und wer weiß: vielleicht wollen sie auch eigentlich hier bleiben?

Mais peut-être c’est juste moi. Ich lasse jedenfalls zwei Screenings sausen, um noch mal mit einer Kollegin zwischen den berühmten internationalen Fahnen zu sitzen, die das Pâcquier – den Freiluftkinobereich am Lac d’Annecy – begrenzen, und trinke einen zufrieden-müden Kaffee in der Sonne. Es kann gut sein, dass man gar nicht mehr im Leben braucht als Filme, Croissants, einen See und den Blick auf den Mont Blanc. Ich erzähle ihr von meinen Festivalfavoriten, und meiner persönlichen finanziellen Schuld, die ich soeben beglichen habe: Der Fahrradmann hat 100 schmerzlich abgehobene Euro eingesteckt, weil ich es erfolgreich bewerkstelligt habe, mir ein Leihrad klauen zu lassen. Zwischen den Fahnen sitzend, weiß ich das noch nicht, aber ich werde es mir nur wenige Stunden später trotz dieses touristentypischen Ereignisses nicht nehmen lassen, mir zwei Kleider zu kaufen, weil ich nun mal in Frankreich bin.

Die Sonne geht nach einer letzten Nacht in Annecy wieder über dem See auf. Foto: Xavier Morghese.

Die Sonne geht nach einer letzten Nacht in Annecy wieder über dem See auf. Foto: Xavier Morghese.

Ein wenig später erzählt dann das Stop-Motion-Kurzfilmprogramm Contes Contemporains ganz andere länderspezifische Geschichten: Garri Bardines „Sery volk end krasnaïa chapotchka“ versetzt das Rotkäppchen in die Zeit von Glasnost und Perestroika, José Miguel Rebeiros „A Suspeita“ beschreibt eine portugiesische Zugfahrt mit deutlichen Agatha Christie-Anklängen, Grégoire Sivans „La Méthode Bourchnikov“ interpretiert den Kubrick-Mythos neu, in dem er seinen Sohn das nie fertig gestellte Werk vollenden lässt und Izabela Plucińskas polnisch-deutscher Film „Esterhazy“ (nach einem Roman von Hans-Magnus Enzensberger) folgt dem Wiener Protagonisten Esterhazy, einem Hasen, der im Mauerstreifen nach einer fetten Häsin sucht, die mit ihm den Fortbestand seines Adelsgeschlechts sichern soll. Vielleicht liegt es tatsächlich an den mannigfaltigen Referenzen und den jeweiligen (politischen) Kontexten, die sie umgeben, aber ich nehme die Contes Contemporains sehr viel positiver war als alle im Wettbewerb gesehenen Kurzfilme. Sie wirken sehr entschieden in ihren Botschaften und Figurenzeichnungen, allen voran „Esterhazy„, der mit seiner absurden Geschichte und seiner Ideal-untermalten Erinnerung an das Mauer-Berlin einer bestimmten Endzeitmelancholie auf die Spur kommt, die sich nach dem Fall der Mauer leider als (N)ostalgie manifestieren konnte.

Nach so einem runden Erlebnis gebe ich mir keine Kurzfilme mehr. Stattdessen entscheide ich mich für den Großmeister des epischen Animationsfilms, Hayao Miyazaki, und seinen letzten hoch gelobten Erfolgsstreifen „The Wind Rises„. Im Japan der 30er Jahre wächst Jiro mit dem großen Traum auf, eines Tages als Pilot über den Wolken zu schweben. Die Sehstärke kommt ihm in die Quere, sodass er sich ganz der Flugtechnik widmet und als Ingenieur die Flugzeuge konzipiert, die später im zweiten Weltkrieg zu den effektivsten Kampffliegern zählen sollten. Die komplexe Adoleszenzgeschichte ist ein krönender Abschluss meines persönlichen Filmprogramms.

Miyazaki schafft es doch tatsächlich, eine politische Geschichte zu erzählen, ohne sich selbst zu positionieren. Und ich bin ihm nicht einmal böse, obgleich ich klare Haltungen schätze. Das liegt daran, dass sich der Film viel Zeit nimmt, dem Publikum Jiros Passion glaubhaft zu vermitteln, in dem er in langen Sequenzen seine Träume schildert, in denen er sich mit seinem großen Vorbild Giovanni Caproni (italienischer Luftfahrtingenieur und Unternehmer) unterhält oder in detaillierten Szenen die Konzeption verschiedener Flugzeuge zeigt. Auch die große Liebe kann Jiro nicht davon abhalten, sich einzig und allein im Tüfteln daheim zu fühlen. „The Wind Rises“ ist eine wunderbare Hommage an die Leidenschaft und an das Genie, die Miyazaki mit großem Respekt und allen vorstellbaren visuellen Extravaganzen in ihrer ganzen Einsamkeit erzählt.

Weiterlesen: Venedig 2013 – Hayao Miyazaki lässt in Venedig seinen Rückzug aus der Welt der Animation mitteilen.

Der große Miyzaki hat sich mit seiner Geschichte so viel Zeit gelassen, dass ich es fast nicht mehr rechtzeitig zur Annecy-Abschlussparty schaffe. Gott sei Dank liegt in Annecy alles nur einen Macaron-Wurf entfernt und so sind wir trotzdem die Ersten am Freibierstand. Wir imitieren schüchterne, verklemmte Menschen vor dem Buffet und essen Häppchen, die wie alle Häppchen auf der Welt völlig unidentifizierbar sind und schütteln die Köpfe über die Festivalgewinner in den Kurzfilmkategorien. Unglaublich schön: Mein Favorit „The Boy and the World“ (siehe Tag 4) hat tatsächlich den Crystal Annecy als bester Langfilm abgeräumt dazu noch den Audience Award gewonnen. Und Bill Plymptons sympathischer Independent-Streifen „Cheatin‘“ wurde mit dem Jury Award ausgezeichnet. Plympton steht neben mir und sieht ziemlich müde aus – wer weiß, ob das am kostenlosen Wein oder am pausenlosen DVD-Verkauf liegt.

Auf der Tanzfläche sehe ich ihn jedenfalls nicht mehr. Dafür sehe ich Xavier wieder, der den Presseraum betreut hat. Wie viele Leute nimmt er sich die Woche für Annecy frei, um dort zu arbeiten und Filme zu schauen. Vielleicht sollte dieses Arbeitsmodel in allen Ländern der Welt gesetzlich verabschiedet werden. Xavier kauft Champagner, wir tanzen zu Bob Marley, Milky Chance und Daft Punk und als der Himmel über Annecy schon wieder der frühe Morgen sein möchte, springen ein paar verrückte Franzosen ins Wasser. Ich bin ein Angsthase und gucke nur neidisch zu. Betrunken baden – das mache ich einfach nächstes Jahr, wenn ich mal wieder dem französischen Eskapismus fröne.

Tag 5 – Animierte Brüste, endlich!
Tag 4 – Der Festivalfavorit steht
Tag 3 – Rencontre Annecy
Tag 2 – Keine Gespräche über Animation
Tag 1 – Tote Hasen und begeisterte Besucher

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