Facetten jüdischen Lebens – Jewish Film Festival Berlin Festivalbericht Teil 1


Nicola Galliner schaut aufgeregt auf den schwarzen Stab in ihrer Hand. Sie ist unsicher: Ist das Mikro an? Ja, es ist. Immer. Vor jedem Film begrüßt die Festivalleiterin persönlich das Publikum und die angereisten Gäste. Sie erzählt von den Planungschwierigkeiten der diesjährigen Ausgabe und von ihrem ungebrochenen Willen, mit dem sie das 16. Jewish Film Festival Berlin in diesem Jahr trotz allem gestemmt hat. Noch zu Beginn des Jahres sah es so aus, als würde im Kino Arsenal niemand Platz nehmen. Es kam anders. Fast zwei Woche lang war das Kino gut gefüllt, nicht selten ausverkauft.

Es ist immer Propaganda

Natürlich hing das von den Filmen ab. Reizthemen ziehen ein breites Publikum an, und so verwundert es nicht, dass der Dokumentarfilm „A Film Unfinished“ von Yael Hersonski über den einzigen Propagandafilm der NS-Zeit, der direkt im Warschauer Ghetto gedreht wurde, einer der Höhepunkte war. Die israelische Regisseurin hat erstmals den im Bundesarchiv aufbewahrten Rohschnitt des Propagandafilms „Das Ghetto“ in nahezu voller Länge zum Gegenstand einer Filmproduktion gemacht. Die Aufnahmen galten bis hinein in die 90er Jahre als authentisch. Viele Szenen dienten anderen Filmemachern als Grundlage für das „tatsächliche“ Leben im Warschauer Ghetto. Erst als in den 90ern bis dahin unbekannte Filmausschnitte auftauchten, die zeigten, dass große Teile der Szenen des Films gestellt waren, fand eine Neubewertung des Schwarzweißfilms statt. Hersonski recherchierte drei Jahre und hat anhand von Berichten von Überlebenden und Tagebüchern der Ghettobewohner sehr genau herausgearbeitet, mit welch zynischen Finesse Goebbels Propagandaindustrie arbeitete. Selten hat ein Film so konsequent und intensiv die suggestive Macht der Bilder entlarvt. Dennoch hinterlässt Hersonskis Film einen leicht bitteren Nachgeschmack. Anstatt der historischen Genauigkeit, auf die sie mit diesem Film pocht, Rechnung zu tragen, untermalt sie Szenen des ursprünglichen Materials, zu dem es nach heutigen Erkenntnissen keine Musik gibt, mit neuen Kompositionen und lädt diese dadurch unnötig emotional auf.

Aber es waren nicht nur die vermeintlich typischen Geschichten über Krieg, Geschichte und jüdische Identität, die das Publikum begeisterten. Eve Annenbergs Liebesdrama „Romeo and Juliet in Yiddish“ wurde ebenso frenetisch gefeiert wie Bob Richmans Dokumentarfilm „Ahead Of Time„, ein eindringliches Porträt der amerikanischen Journalistin Ruth Gruber. Vielfalt hatte sich Nicola Galliner für ihr Festivalprogramm gewünscht und mit leicht betrübter Miene zu Beginn des Festivals darauf hingewiesen, dass die Auswahl der gezeigten 23 Filme ein „Programm des Weglassens“ darstellte. Ihre kurzen Ansprachen wirkten, als hätte Galliner kleine Schätze geborgen, die sie nun mit Stolz einer breiten Öffentlichkeit präsentierte. Natürlich kann nicht jeder Film brilliant sein. Warum auch? Kunst darf (muss) Ecken und Kanten haben, an denen sich der Zuschauer stößt, die ihn ebenso entzücken wie abstoßen.

Ein Blick zurück

Lillian Birnbaums und Peter Stephan Jungks Dokumentation „André Previn – Eine Brücke zwischen den Welten“ ist so ein Fall. Die beiden Regisseure nähern sich dem US-amerikanischen Komponisten und Dirigenten von einer ungewohnten Seite. Sie lassen Previn persönlich durch sein Leben führen und auf Menschen blicken, die ihn in seinem Beruf wie in seinem Privatleben begleiteten, darunter seine beiden Exfrauen Schauspielerin Mia Farrow und die Violinistin Anne-Sophie Mutter. Mal sitzt Previn gemütlich auf dem Rücksitz eines Autos und plaudert über seine Karriere, mal sieht man ihn in privater Atmosphäre gemeinsam mit zwei seiner Söhne. Die Idee, den Musiker selbst seine Geschichte erzählen zu lassen, ist grundsätzlich nicht falsch. Sie scheitert aber an zwei elementaren Dingen: Einerseits wirken Teile der Gespräche gepresst, gerade so als ob die Protagonisten nicht so recht wüssten, worüber sie sich nun unterhalten sollten. Andererseits legt Previn es in einer Szene trefflich mit eigenen Worten dar: „Ich habe keinen Bezug zu meiner Vergangenheit“. Damit scheitert der Film an seinem eigenen Anspruch, denn wenn der Künstler selbst nicht weiß, was er von sich preisgeben soll, muss zumindest der Regisseur wissen, wie er Inhalte aus dem Betreffenden kitzelt.

Der Zeit vorraus

Anders verhält es sich mit „Ahead Of Time“ von Regisseur Bob Richman. Die Journalistin und Autorin Ruth Gruber, mittlerweile 99 Jahre alt, zog mit ihren Berichten das Augenmerk der Welt auf die Nürnberger Prozesse, die Irrfahrt des Schiffs Exodus 1947, die Treffen der Vereinten Nationen in Palästina und die Gründung des Staates Israel. Richman fokussiert auf die Leidenschaft, mit der Gruber ihrer Arbeit nachging und auf ihren Durchsetzungswillen in einer von Männern geprägten Welt. Gruber hätte mit ihren Leistungen als Journalistin durchaus als eine Wegbereiterin des Feminismus gelten können. Richman aber orientiert sein Porträt an ihrer Arbeit und zeichnet das Bild einer energischen Frau, die viele Persönlichkeiten in sich vereint und sich in ihrer aktiven Zeit als Journalistin von keinem politischen Standpunkt vereinnahmen ließ.

Lucy Kayes geradezu leiser Film „Together Alone“ ist ebenfalls ein Rückblick. In ihrer halbstündigen Dokumentation folgt die Regisseurin fünf jüdischen Senioren, die letzten Überlebenden von über 120.000 jüdischen Immigranten, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts im Londoner East End niederließen. Kayne hält unkommentiert den Alltag der Menschen fest, der bestimmt ist von Isolation und Erinnerungen an die Vergangenheit. Sie zeigt die Bitterkeit, die hinter einem Leben stehen kann, aber auch den ungebrochenen Optimismus und Humor, den sich die Rentner bewahrt haben. Ein bewegender aber viel zu kurz geratener Einblick in das erlebnisreiche Leben der fünf Rentner …

Martin Daßinnies

Romeo und Julia in Brooklyn – Jewish Film Festival Berlin Festivalbericht Teil 2


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