Berlinale Nachlese: Generation


Filmszene: "Jess + Moss"

Filmszene: "Jess + Moss"

Vergesst die (nächste) Generation nicht – Die Sektion Generation über Einsamkeit und zurückgelassene junge Erwachsene

Perfekter Ausklang für die Sektion Generation am Publikumssonntag. Der volle Saal feiert den australischen Film „Red Dog“ (Kriv Stenders) und die Geschichte eines Hundes, der einer Kommune in Dampier (Westaustralien) den Kopf verdreht und aus Einzelgängern eine Familie formt. Hier finden die gezeigten Programmbeiträge zu einer Synthese zusammen und produzieren ein erhebendes Gemeinschaftsgefühl, als eine Art Aussöhnung mit den tapferen Einzelkämpfern und Helden der anderen Filme, so scheint es. Alle, auch der Kinosaal, liegen dem Hund zu Füßen. Auf dem Weg zurück vom Haus der Kulturen der Welt hängt der Mond bedeutungsschwanger, tief und schwer in Übergröße am Himmel. Ein letztes Mal strahlt die Holywood-Installation aus dem Tiergarten-Dickicht. Als der Bus vorbei fährt, wird gerade der Schatten eines Rehs auf die Leinwand projiziert. Ein bisschen Wehmut macht sich breit über das Ende von zehn Tagen Filmwahnsinn, trotz der Kritikerschelte über „Die ewige Zweite“ (Anke Westphal) oder „Dritte“.

Die Berlinale katapultiert sich offenbar mit zweitklassigen Wettbewerbsfilmen in der Hauptsektion, die im Panorama oder Forum weit besser aufgehoben gewesen wären, nach Cannes und Venedig ins Aus. Im Gegensatz zur vorgeworfenen Beliebigkeit und Langeweile präsentiert sich die Sektion Generation mit klar definiertem Profil und Anspruch. Von der Presse oft unzureichend beachtet oder ihr nur eine Randnotiz wert. Der so genannte „Kinder- und Jugendfilm“ erscheint als weniger ernst zu nehmende Kategorie, die im Angesicht der anderen Sektionen zu vernachlässigen wäre, da man glaubt, auf wenig Überraschendes oder Streitbares zu treffen. Das Gegenteil ist der Fall. Dennoch schaffen es nur wenige Produktionen, wie „On the Ice“ (Andrew Okpeaha MacLean) oder „Jess + Moss“ (Clay Jeter), die Entwicklungen auf dem amerikanischen Markt kennzeichnen, in die Industriepresse.

Seit Jahren beweist Generation, dass sie ihr Publikum ernst nimmt und ihnen nicht alles zum Fraß vorwirft, was sie bekommen kann oder was durch Fördergelder durchfinanziert wurde. Die gezeigten Filme sind keine halbfertigen oder unentschlossenen Filme, die auf der Beliebigkeitsskala nach oben oder unten ausscheren. Selbst schwache Filme haben noch Substanz und verenden nicht in einem Nonsens-Nirwana. Sicher, die Sektion hat einen besondern Fokus, nicht zuletzt vielleicht auch Auftrag hinsichtlich ihres Zielpublikums, das noch mit anderen Sehgewohnheiten an die Filmwelt herantritt. So folgt das Gros der häufig bildgewaltigen Filme dem klassischen Kino mit stringent narrativen Formstrukturen, die meist logischen Erzählmustern folgen und selten abstrakt sind. Dennoch werden die Zuschauer von der Sektionsleiterin Maryanne Redpath und ihrem Stellvertreter Florian Weghorn nicht unterschätzt, wird ihnen nicht jeder Happen mundgerecht serviert. Das Generationenteam versucht die Vielfalt des Filmschaffens in angemessener Form für sein Publikum aufzufächern. Die Zuschauer werden für Bergman-Filmklassiker ebenso wie für abstrakte Videoinstallationen sensibilisiert und herausgefordert.

Filmszene: "Mit dem Bauch an die Wand"

Filmszene: "Mit dem Bauch an die Wand"

Häufig findet sich aber ein übergeordnetes Thema, dass sich in einem Jahrgang seinen Weg nach draußen sucht und offenbar zeitgleich verschiedene Länder und Kulturen beschäftigt. In diesem Jahr klingt es wie eine Ermahnung, die nächste Generation nicht zu vergessen. Viele Geschichten in beiden Sektionsbereichen Kplus und 14plus erzählen immer wieder von zurückgelassenen, ignorierten oder vergessenen Kindern und Jugendlichen. Während beispielsweise im Wettbewerb Beiträge vertreten sind, die kindsköpfige Erwachsene zeigen, die sich nie festlegen und Verantwortung übernehmen wollen, finden sich in der Generationen-Sektion fast ausschließlich Kinder und Jugendliche, die viel zu schnell erwachsen werden müssen. Sie haben im Gegensatz zu den Mid-Thirty-Somethings keine Wahl. Bewegend und äußerst intensiv schildern der amerikanische Independent Beitrag „The Dynamiter (Matthew Gordon) und der schwedische Film „Frit Fald“ (Heidi Maria Faisst) die Umstände der heute 14- bis 15-jährigen. Sie geben den Blick frei auf das Lebensgefühl einiger Heranwachsender. Auch der Schweizer Dokumentarfilm „Mit dem Bauch durch die Wand“ (Anka Schmid) zeigt wie schnell und beeindruckend stark sich besonders junge Mütter ihren neuen Aufgaben stellen.

Am eindrücklichsten und humorvoll großartig überspitzt bringt der Kplus Beitrag „A Pas de Loup“ (Olivier Ringer) die Themen Einsamkeit und Auf-sich-allein-gestellt-Sein auf den Punkt. Cathy ist für ihre Eltern praktisch unsichtbar. Von ihrem Alltag bis in die kleinsten Abläufe strukturiert, reagieren sie nur noch blind auf das Kind und nehmen keine der skurrilen Aktionen ihrer neugierigen und cleveren Tochter wahr. Also beschließt Cathy sich ganz aus der Familie zu ziehen und testet schon mal an einer Tankstelle, ob ihren Eltern auffiele, wenn sie nicht mehr im Auto säße. Tatsächlich, sie fahren einfach ohne sie weiter. Es reicht, die Tür ins Schloss fallen zu lassen, um die Eltern denken zu lassen, die Tochter säße an Bord. Nach einer Reihe solcher Erlebnisse beschließt Cathy, dass sie gleichwohl für sich allein sorgen kann. Ihr Dasein bemerkt oder vermisst ohnehin niemand. „A Pas de Loup„macht auf herzzerreißend und rührend komische Art auf die ignorierten Bedürfnisse der Kleinen aufmerksam, die im Alltag der Großen einfach komplett vergessen werden. Der Film, der außergewöhnlich sensibel aus der Sicht eines Kindes mit dessen Vorstellungen von Zugehörigkeit und Sicherheit, Risiko und Leben spielt und die aufgestellten Normen und Regeln aus der Welt der Großen hinterfragt, war mit Sicherheit eines der Highlights im Programm.

Mit „Jess + Moss“ von Clay Jeter, dem letzten Wettbewerbsbeitrag der Sektion, wagte das Programmerteam noch einmal einen Sprung in eine komplett andere Filmwelt und zeigte einen Film, der eher an Video-Art erinnerte. Die herausragende Arbeit feierte bereits ihre Weltpremiere einige Wochen zuvor auf dem Sundance Filmfestival. Mit der Aufnahme des Filmes in den Generation-Wettbewerb bewies die Sektion wieder einmal ihr Gespür für interessante Tendenzen, auch fern von der klassisch logischen Erzählform, und das Vertrauen in ihr junges und anspruchsvolles Publikum. „Jess + Moss“ ist abstrakt und symbolisch aufgeladen, teilweise gleichnishaft und frei für die Phantasie und Deutungen seiner Zuschauer. Und doch tun sich die Zeichen nicht allzu schwer entziffert zu werden. Auch hier ist die Abwesenheit der Verantwortlichen, der Fürsorger mehr als deutlich.

Filmszene: "On The Ice"

Filmszene: "On The Ice"

Jess und Moss haben sich in einem zerfallenen Haus eingerichtet, das sich sinnbildlich mit dem Zerfall eines Obdachs, einer Zuflucht, eines Zuhauses verstehen lässt. Die Geschichten um das Verbleiben ihrer Eltern sind vage und nur Audio-Kassetten, die von Jess Mutter zu stammen scheinen, erzählen fragmenthaft von einer fernen Vergangenheit. Jess und Moss leben in einem Niemandsland bestehend aus Erinnerungsfetzen, dass ihnen helfen soll zu definieren woher sie kommen und wohin sie gehen. Doch es gibt keine zuverlässigen Parameter. Erinnerungen verblassen, sind ungeordnet oder einfach nie wirklich greifbar gewesen. Der Film will keine logische Geschichte erzählen. Stattdessen versucht Clay Jeter das Phänomen Erinnerung auf der Leinwand spürbar werden zu lassen. „Alles was du siehst, wird von deinem Gehirn fotografiert und auf diese Weise archiviert.„, erklärt Jess die Verfahrensweise von Erinnerungen. Doch diese stilistische Fingerübung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch hier zwei Heranwachsende auf sich allein gestellt sind und von jemandem zurückgelassen wurden.

Die amerikanischen Independent Vertreter im Programm waren generell starke Beiträge im Wettbewerb. Einer von ihnen der Langspiel-Debütfilm „On The Ice“ (Andrew Okpeaha MacLean) gewann mit seiner Geschichte über eine Freundschaft und die Konsequenzen unheilvoller Ereignisse nicht nur den Gläsernen Bären, als bester Film im Wettbewerb 14plus, sondern auch den Preis für den besten Erstlingsfilm. Generation zeigt, wie viel Potential in der Sektion steckt und wie stark das Genre des „Kinder- und Jugendfilms“ ist, so es derart überhaupt definiert werden muss. Beim Publikum erstrahlt die Sektion bereits seit vielen Jahren erfolgreich und schlägt sich in den Ticketverkäufen nieder. Bleibt zu hoffen, dass es einige dieser interessanten Filme auch in die Kinosäle schaffen, fernab vom Festivaltrubel.

S. Teichmann