„Chaplin Complete“: Interview mit Geraldine Chaplin
Die Retrospektive beginnt am 15. Juli mit einem ersten Höhepunkt. Am Pariser Platz wird „The Great Dictator“ gezeigt. Ihr Vater wird anstatt von Adolf Hitler am Brandenburger Tor sein und im Film mit dem überdimensionierten Globus tanzen…
Chaplin: Das wird unglaublich. Ein historischer Moment. Ich kann mir das noch nicht vorstellen, aber ich werde dort sein. Es wird sehr bewegend, aber auch lustig und vor allem sooo gut!
Hitler soll den Film gesehen haben.
Chaplin: Er hat ihn wohl gesehen. Wie gerne hätte ich dabei Mäuschen gespielt.
War Ihr Vater nach Ende des Weltkriegs in Berlin?
Chaplin: Ich weiß nicht genau. Ich erinnere mich aber, wie ich einst ein Gespräch belauschte, in dem er einem Bekannten erzählte, dass er sich in Berlin verliebt habe. Ich hörte ihn einen Namen sagen, der nicht der Name meiner Mutter war. Es war schockierend. Wie konnte das sein? Der Name war Nofretete. Er verliebte sich in Nofretete in dem Moment, in dem er sie sah. Bei mir hat es damals allerdings nicht klick gemacht. Er ließ sich später eine Büste von ihr fertigen, die er immer mit sich herumschleppte.
Glauben Sie, dass Film oder Humor die Welt verändern können?
Chaplin: Ich denke nicht. Kein Film verändert die Welt, aber die Art, wie du auf die Welt schaust. Mit einem Sinn für Humor fällt Manches leichter. Das Einzige, was Politik beeinflusst, ist die Wirtschaft. Politik ist so zynisch. Wussten Sie, dass bei Ceauşescu die größte Charlie Chaplin Kollektion gefunden wurde?
Viele Schauspieler sehen in Ihrem Vater ein Vorbild. Sehen Sie einen, der ihm das Wasser reichen könnte?
Chaplin: Johnny Depp gibt in „Fluch der Karibik“ sein Bestes. Vor einigen Jahren drehte ich mit seiner damaligen Freundin Wynona Ryder „Zeit der Unschuld„. Sie suchte ein Geburtstagsgeschenk für ihn und wusste, dass er Unsummen für einen Hut von Charlie Chaplin ausgegeben hatte. Sie erzählte mir, dass er sein Vorbild war. Ich gab ihr einen französischen Verdienstorden, den mein Vater einst verliehen bekommen hatte, als Geschenk für Johnny Depp. Generell fällt jeder Vergleich mit ihm schwer, da er bei seinen Filmen alles außer der Kameraarbeit selbst machte. Diese großartige Musik. Alles. Ich denke, das macht heute niemand so und wird auch nie mehr jemand machen. Es wurden so tolle Sachen über ihn als Vorbild gesagt. Jean Renoir sagte einst: „Es gibt nur drei wirklich große Filmemacher: Charlot, zweitens Charlot und drittens Charlot.“ Charlot ist Charlie Chaplin. Berthold Brecht wurde nach Vorbildern gefragt und er antwortete: „Es gibt nur zwei große Regisseure und der andere ist Charlie Chaplin.“
Wie hat sich die Filmindustrie in all den Jahren verändert?
Chaplin: Ich war gerade Vorsitzende der Jury beim Filmfest in Moskau und wir hatten Filme aller Art im Wettbewerb – von Hollywood über Experimentalfilme bis hin zu Indie-Produktionen. Es waren eine Menge Filme dabei, die stark polarisierten. Alle Juroren waren älter, im Schnitt über 60. Über die drei Sieger waren wir uns merkwürdigerweise einig. Drei vollkommen unterschiedliche, aufregende und wunderbare Filme. Bei der Preisverleihung kamen deren drei Regisseure auf die Bühne und sie waren unheimlich jung. Wir haben alle genug von Hollywood mit seinen Predigten und der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Seit langer Zeit spüre ich wieder Hoffnung für das internationale Kino. Film ist für das 21. Jahrhundert, wie die Oper für das 20. Jahrhundert. Ein Relikt vom letzten Jahrhundert: lebendig, aber ohne Entwicklung. Ich hoffe es finden sich Produzenten mit Eiern. An jungem Talent mangelt es nicht.
Die Fragen stellte Denis Demmerle
Weitere Info:
Das im Interview erwähnte Gespräch vom 24. Juli 1971 erschien unter der Überschrift „Ich bin das Gegenteil von Charlie“ in der Münchner „Abendzeitung“. Hier der Link.