Kolumne: Einsvierundzwanzig
Da gibt es eine Episode, in der zwar sehr viel gesprochen wird, doch die Worte finden in einer dem (deutschen und bulgarischen) Publikum unbekannten Roma-Sprache statt. Untertitel werden nicht angeboten. Die Episode beschreibt ein Familienpicknick im Stil einer Dokumentation und offenbar legt die Familienpicknick-Situation unzweifelhaft nahe, dass nichts Interessantes gesprochen werden kann, weswegen man auch nichts verpasst. So kann man sich ganz den Bildern widmen und muss sich nicht der Enttäuschung stellen, in Sinti- und Roma-Familien werde womöglich genauso viel Unsinn geredet, wie in deutschen Familien. Dann wäre Emir Kusturica ein Lügner, und das wäre sehr schade. Das Erstaunliche jedenfalls ist, dass die fremde, unverstandene Sprache den dokumentarischen Charakter der Szene noch unterstreicht. Verstehbare Dialoge hätten dem, was über die Familie erzählt wird – wie sie lebt, woher sie kommt und wie die einzelnen Figuren zueinander stehen – nicht viel hinzufügen können.
Doch zurück zu Chaplin: Beachtlich ist es doch, dass „Citylights“ ein solcher Erfolg war. Schließlich löste der Tonfilm Ende der 1920er Jahre so viel Begeisterung aus, dass sich die Besucherzahlen in den Kinos schlichtweg verdoppelten. Einige Leute wird es sicher gegeben haben, denen diese neumodische Technik des Tons im Film suspekt war. So wie sich heute eine gewisse Anzahl von Kinogängern, darunter ich selbst, nicht vorstellen wollen, dass der 3D-Film in Kürze zum Standard werden wird. Aber das liegt nur daran, dass wir Dinosaurier sind. Das Medium Film hat sich vom Stummfilm über den Tonfilm bis zum Farbfilm immer weiter auf dem Weg hin zur perfekten Illusion bewegt. Die Realitätsflucht wird immer realistischer ausgestaltet. So wird auch 3D sich durchsetzen. Die Geschichten werden deswegen nicht besser. Aber immerhin auch nicht schlechter.
Trotzdem: Als ich Chaplins Stummfilm vor ein paar Tagen im Kino Babylon Mitte sah, tat es so ungleich gut, sich keine Gedanken über die Qualität der Dialoge oder der Synchronisation machen zu müssen. Anstatt dessen die pure Freude an diesem unglaublich komischen Charlie Chaplin. Vergessen wir die schwedische Familie, die hinter uns unentwegt plapperte und mit den Gummitier-Tüten knisterte. Selbst die wunderbare (von Chaplin komponierte) Musik, die das Neue Kammerorchester Potsdam unter der Leitung von Timothy Brock sehr ordentlich spielte, stellte sich brav, wie Filmmusik das eben tun sollte, in die hinterste Reihe der Zuschauer-Aufmerksamkeit. So lag die Konzentration auf den Figuren, ihren Bewegungen, dem Widerspruch zwischen der Heiterkeit, die die Kunstfigur Charlie Chaplins, der Tramp, auslöst, und der Wirklichkeit ihres traurigen sozialen Hintergrunds – der Tramp ist immerhin ein Obdachloser. Ich will nicht sagen, dass diese kluge und schöne Vermischung aus Komik und Tragik nur im Stummfilm möglich sei. Chaplin selbst hat uns mit seinen folgenden Filmen gezeigt, dass die Sprache all das nicht zerstören muss. Aber der Stummfilm erinnert einen daran, dass es ab und zu mal wirklich angebracht ist, einfach nur die Klappe zu halten.
Patricia Schwan
„Citylights“ ist noch einmal am 30. Juli um 19.30 Uhr im Kino Babylon Mitte, Rosa-Luxemburg-Str. 30, zu sehen.
Die Autorin Patricia Schwan betreibt das Programmkino-Blog „Off-Kino Berlin“ mit wöchentlichen Tipps zum Berliner Off-Kino-Programm und Artikeln zu aktuellen Independent Filmen. www.offkino-berlin.de