Festivalbericht Cinema! Italia! 2011

Festivalbericht 2011: Eindringlichkeit und leuchtende Bilder


Filmszene: "Lo spazio bianco"

Filmszene: "Lo spazio bianco"

Wenn man den Erfolg eines Filmfestivals messen will, so gehören Besucherzahlen vermutlich zu den geeignetsten Indikatoren. Dementsprechend macht es schon einen etwas deprimierenden Eindruck, wenn man zu den einzelnen Wettbewerbsfilmen geht und das Gefühl hat, dass die freie Platzwahl-Politik des Kinos wortwörtlich zu nehmen ist. Zugegeben, vielleicht waren die spärlichen Besucherzahlen auch dem Umstand geschuldet, dass bei der diesjährigen Cinema! Italia!-Tour neben dem Babylon auch das Rollberg-Kino ausgewählt wurde, das sich unglücklicherweise in einem etwas schäbigen Einkaufszentrum nebst Kaisers, Schlecker  und Co. in Neukölln befindet. Dass die Zuschauer bei der Preisverleihung im Babylon ein paar Tage später den Veranstaltern die Bude einrennen, versetzt einen dann vergleichsweise doch ziemlich in Erstaunen, aber dazu später mehr.

Den Anfang macht im Rollberg der Film „Lo spazio bianco“ („Der weiße Raum„, Francesca Comencini), in dem eine 40-jährige Frau bei einer kurzen aber intensiven Affäre schwanger wird, sich nach langem Überlegen schließlich für das Kind entscheidet, dann aber nach sechs Monaten Schwangerschaft eine Frühgeburt erlebt. Maria (Margherita Buy), die Protagonistin des Films, ist jedoch stark und gewinnt all ihre verloren geglaubte Lebenslust zurück, als sie am Brutkasten ihrer Tochter Irene drei Monate lang wacht und wartet – ohne zu wissen, ob ihr Kind bald geboren oder bald sterben wird. Lo spazio bianco illustriert sehr deutlich und eingehend, wie sehr sich das eigene Leben verändern kann, wenn plötzlich ein anderes auf dem Spiel steht. Auch inszenatorisch und medienrezeptionsreflektiert weiß der Film Marias Entwicklung und Fortschritte zu beschreiben, denn während sie zu Beginn des Films meist allein als Zeitvertreib das Kino aufsucht, sieht man sie später wie einen verliebten Teenager in der Dunkelheit des Saales mit ihrem kurzzeitigen Liebhaber. Ihren dritten Kinobesuch unternimmt Maria schließlich mit einer Freundin, was ihre soziale Integration und auch ein Angekommen im Leben zu symbolisieren scheint. So einfühlsam und klug der Film hier beweist, dass Coming of Age auch noch jenseits der 40 möglich ist, stellt sich für so manchen Filmzuschauer jedoch die Frage, ob immer und zwangsläufig erst ein Kind notwendig ist, um die wirklich wichtigen Schritte zu gehen und sein Leben nicht scheinbar weiterhin zu verpassen.

Filmszene: "Immaturi"

Filmszene: "Immaturi"

Dieselbe Frage scheint sich übrigens auch die Figur Giorgio (Raoul Bova) im Film „Immaturi“ („Zurück auf Los„, Paolo Genovese) zu stellen. Er lebt mit seiner Freundin in einer stabilen Beziehung, alles läuft harmonisch und ist bis hin zum morgendlichen Frühstück durchchoreografiert, doch als seine Freundin ihm von ihrer Schwangerschaft erzählt, gehen bei Giorgio die Alarmlichter an. Immerhin scheint er doch etwas reifer als seine ehemaligen Schulfreunde, die er nach 20 Jahren wiedertrifft, weil dem Schulministerium ein gravierender Fehler unterlaufen ist und nun alle ihr Abitur nachholen müssen. So trifft er beispielsweise auf Piero (Luca Bizzarri), der nicht mal eine feste Beziehung ertragen kann und seiner Geliebten vormacht, er wäre bereits verheiratet und hätte schon ein Kind. Viel besser stellt sich auch ihr Freund Lorenzo (Ricky Memphis) nicht an, der mit Ende 30 immer noch zuhause wohnt, sich von vorne bis hinten verwöhnen lässt und ein beinah ödipales Verhältnis zu seiner Mutter pflegt. Gemeinsam gelingt es ihnen schließlich, noch einmal von vorne zu beginnen, zu den Erwachsenen zu werden, die sie eigentlich sein wollten, ihre Freundschaft neu aufzunehmen und Verantwortung fürs eigene Leben zu entwickeln. „Immaturi“ glänzt mit einem bunten fröhlichen Layout, einer Stadt wie Rom, in der man sofort Urlaub machen möchte und Dialogen, die in Teilen durchaus trotz der Untertitel einige Lacher hervorrufen. All das täuscht jedoch nicht darüber hinweg, dass es sich irgendwie wie eine italienische Variante einer SAT1-Mittwochabend-Komödie anfühlt, deren Figuren natürlich der Mittelschicht entspringen, in schick designten mediterranen Wohnungen leben und deren aller Happyend etwas zu offensichtlich vorprogrammiert ist.

Ganz so schick und knallig ist es in Paola Randis Wettbewerbsbeitrag „Into Paradiso“ („Ins Paradies„) nämlich nicht. Die Regisseurin entführt den Zuschauer hier in ein Neapel, dass nebenbei bemerkt auch die Heimatstadt der Protagonistin aus „Lo spazio bianco“ ist, lenkt den Fokus jedoch verstärkt auf massive soziale Probleme wie Ghettoisierung, Arbeitslosigkeit und natürlich die Mafia. In dieser Welt treffen der vor kurzem entlassene Wissenschaftler Alfonso (Gianfelice Imparato), der ehemalige sri-lankische Kricket-Champion Gayaan (Saman Anthony) und der korrupte Politiker Vincenzo (Peppe Servillo)  aufeinander. Letzterem ist es auch geschuldet, dass alle drei Opfer krimineller Machenschaften werden und sich auf dem Dach eines besetzten Migrantenhauses, das vorrangig von Sri-Lankern und Indern bewohnt wird, vor der Camorra verstecken. Randi fokussiert hier nicht nur ironisch überspitzt auf die italienische Politik, sondern karikiert auf geniale Weise deren ärgsten Feind und lässt die Grenzen zwischen Rechtschaffenheit und Kriminalität absichtlich verschwimmen.

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