Die Sektion Forum der 62. Berlinale
Riskante Form-Freiheiten
International, genreübergreifend und mit dem besonderen Blick für Produktionen fernab des Mainstreams präsentiert sich das Forum auch in diesem Jahr als die „risikofreudigste Sektion der Berlinale“. Die insgesamt 38 Filme im Hauptprogramm der Berlinale-Sektion, von denen allein 26 in der Hauptstadt ab kommende Woche ihre Weltpremiere erleben werden, kennen thematisch keine Grenzen und reichen von zeitlosen, persönlichen Alltagsgeschichten bis hin zu aktuellen politischen und globalen Problemstellungen.
So zieht sich die Frage nach der individuellen Lebensgestaltung durch verschiedene Beiträge, etwa wenn Youssef in „Al Juma Al Akheira“ („The Last Friday„, Yahya Alabdallah) im fernen Jordanien angesichts seines rebellischen Sohnes und einer ihm bevorstehenden Operation plötzlich aus seinem lethargischen Leben als Taxifahrer ausbrechen muss oder wenn die Restauratorin Magdalena im Film „Spanien“ (Anja Salomonowitz) vor ihrem gewalttätigen und kontrollsüchtigen Ex-Ehemann in die Arme eines Fremden flüchtet. Auch „Toata lumea din familia noastra“ („Everybody in Our Family„, Radu Jude) verschreibt sich diesem Topoi, indem sich hier ein rumänisches Familiendrama hinter verschlossenen Türen entspinnt, dessen Dreh- und Angelpunkt wie so oft die Scheidung zweier Elternteile ist.
Der Film schließt damit zum Teil auch an die Liebes- und Beziehungsfragen an, denen sich andere Beiträge des Forums in diesem Jahr widmen werden: So nähert sich der Dokumentarfilm „What Is Love“ (Ruth Mader) fünf verschiedenen Lebens- und Beziehungsmodellen, die vom Single-Dasein über das alteingesessene Ehepaar bis hin zur Patchworkfamilie reichen. Ähnliches unternimmt auch der Beitrag „Beziehungsweisen“ („Negotiating Love„) von Calle Overweg, welcher im Mockumentary-Stil Paaren während einer Therapiesitzung die Möglichkeit gibt, ins Antlitz der eigenen Beziehung zu blicken. Übrigens wird sich auch das amerikanische Independent-Kino mit drei Beiträgen in den Reigen der Familien- und Alltagsgeschichten einreihen, wenn in „For Ellen“ (So Yong Kim) ein hedonistischer Rockmusiker endlich seinen väterlichen Pflichten nachkommen will, „Francine“ (Brian M. Cassidy, Melanie Shatzky) das neu beginnende Leben einer ehemaligen Gefängnisinsassin porträtiert und „Kid-Thing“ von David Zellner vom Schicksal einer texanischen verwahrlosten Kleinstadtgöre berichtet.
Mit Blick auf das andere Ende der Welt – genauer auf Japan – verschieben sich jedoch die thematischen Dimensionen weg von persönlichen Einzelschicksalen hin zu politischen und global brisanten Größenordnungen. Im Fokus stehen hierbei der Tsunami und das daraus resultierende Atomkraftwerk-Unglück von Fukushima, das im März vergangenen Jahres die Welt in Atem hielt. Gezeigt werden hier nicht nur das Ausmaß von Zerstörung und Verstrahlung nach dem GAU („No Man’s Zone„, Fujiwara Toshi), sondern genauso die immer noch andauernden ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes, die sowohl in „friends after 3.11“ von Iwai Shunji als auch in „Nuclear Nation“ von Funahashi Atsushi dem Berlinale-Publikum vor Augen geführt werden.
Bereits zum siebten Mal in Folge wird die Sektion zusätzlich durch die Unterkategorie Forum Expanded angereichert, die auch in diesem Jahr Raum alles jenseits der gängigen Spielfilmlänge bietet und den Begriff Kino mit anderen Kunstformen wie Ausstellungen, Videoinstallationen und experimentellen Kurzfilmen intensiv verschränkt. Die Formulierung „risikofreudigste Sektion der Berlinale“ scheint also bereits vorab vage und zugleich treffend die Bandbreite des diesjährigen Forums zu beschreiben, wenn auch die Kennzeichnung „Alles, bloß nicht konventionell“ gleichermaßen passend erscheint.
Alina Impe