Athina Rachel Tsangari über ihren Film „Attenberg“


Athina Rachel Tsangaris, Foto:  Despina Spyrou / Haos Film 2010

Athina Rachel Tsangaris, Foto: Despina Spyrou / Haos Film 2010

Seit einiger Zeit sorgt griechisches Kino für Furore bei den großen Filmfestivals. Anerkennend beobachten Presse und Publikum die „Greek New Wave“ titulierte Bewegung. Regisseurin Athina Rachel Tsangaris ist mittendrin und gilt neben Yorgos Lanthimos („Dogtooth„, „Alpen„) als Gesicht dieses „Neuen Griechischen Kinos“. Im Gespräch erklärt die ehemalige Festivalmacherindie Bedeutung von Filmfestivals für ihre Arbeit, ihr beinahe naturwissenschaftliches Interesse am Menschen und wie die „Greek New Wave“ ohne staatliche Förderung auskommt.

Frau Tsangaris, das griechische Kino scheint im Kommen, eine „Greek New Wave“, wie es anerkennend heißt. Wie trugen Sie und Ihre Produktionsfirma dazu bei?
Dafür haben wir sehr hart gearbeitet. Wir wollten sehr bewusst ein anderes System erschaffen. Wir wollten es möglich machen, Filme ohne öffentliche Zuwendungen zu machen. Ohne ständig in Cafés zu sitzen und zu jammern, dass so keine Kunst möglich wäre. Ich habe in den USA studiert, wo es keine Förderung für Film gibt. Jeder weiß, dass du dich dort selbst um alles kümmern musst. Also mussten wir Nachteile durch unsere Kameradschaft wettmachen. Die Rollen wechseln. Einer produzierte, ein anderer führte Regie und der nächste sprang als Schauspieler ein oder kümmerte sich ums Catering. Wir drehen in unseren Wohnungen, mit eigenem Equipment. Wie ein Kollektiv. Eine kleine Utopie. Keine Ahnung, wie lange das funktionieren kann, aber so lange Griechenland kein Geld hat und Kunst als Luxus betrachtet, ist es gut, so Filme über die Gegenwart drehen zu können. Die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.

Das hat auch Vorteile, schließlich kann so auch niemand von außen Einfluss auf den Film nehmen.
Es gibt keine Zensur und niemanden, der einem vorschreibt, was zu tun ist. Es bleibt aber ein Problem: Es gibt keine organisierte Filmkultur in Griechenland. Keine Filmschulen, die es sonst in jedem anderen europäischen Land gibt. Diese neue Kunst-Bewegung wird von Leuten getrieben, die im Ausland Film studierten oder noch immer dort leben. Wir brachten unsere gesammelten Erfahrungen mit zurück nach Griechenland.

Was interessiert Sie an menschlichen Wesen?
Eine große Frage. Mich interessiert der menschliche Zustand. Dieser Verfassung wollte ich mich von der Seite nähern. Menschliche Emotionen anders zeigen. Menschen als Spezies betrachten, wie Modelle ihrer Art, die ich beobachte und analysiere. Durch die Augen eines Mädchens, die ganz eindeutig ein Misanthrop ist. Meine Hauptdarstellerin Marina und ich, wir betrachten die Menschen als Fälle. Den Moment eines Kusses oder den Moment, in dem eine Frau ihre Jungfräulichkeit verliert, als sexuellen Akt. Das folgt einer gewissen Logik, mit der wir uns selbst beobachten. Distanziert, wie Wissenschaftler, die forschen und sich uns als Objekt vornehmen. Sie wollen herausfinden, was es bedeutet menschlich zu sein – und was nicht. Gerade wenn jemand stirbt, folgt das klaren Regeln. Das sind festgelegte Prozesse. Wie verabschiedet man sich, wie organisiert man eine Beerdigung. Wir entfernen davon die menschliche Emotion und zeigen nur den Prozess.

Sind das nicht eher Vorgänge, für die es keine Routinen gibt? Niemand kann sich daran gewöhnen, Menschen zu verlieren, die er liebt.
Es ist eine Art Katharsis. Ein Trick, wir halten uns beschäftigt. Bleiben praktisch. Nehmen wir Hochzeiten. Hochzeiten sind wie Hollywood-Produktionen. Die Idee einer Vereinigung zweier Menschen ist verschwunden. Erst ein paar Wochen später merken die Leute: Oh Gott, wir sind verheiratet. Das liegt daran, dass die vorher durch all die festgelegten Prozesse müssen. Bevor Marina ihre Jungfräulichkeit verliert, erklärt sie sich selbst, was sie gerade tut. So verinnerlicht sie was geschieht.

Wie beschreiben Sie Marina, Ihre Hauptfigur? Sie kommt dem Zuschauer häufig wie ein Alien vor.
Eine Hälfte ist ein Alien, die andere Hälfte ein wildes Tier. Ein Mädchen mit einer verzögerten, verlängerten Adoleszenz. Ich halte sie für eine sture Rebellin. Sie hat beschlossen die Dinge auf ihre Art zu machen. Sie verweigert sich dem Druck ihrer Umwelt. Dabei ist sie sehr hübsch. Das war mir wichtig. Sie sollte kein kleines hässliches Mädchen sein, mit der keiner Sex haben will. Sie ist attraktiv und hätte ihre Jungfräulichkeit schon viel früher verlieren können. Nur war sie nicht bereit. Erst dann hat sie die Initiative ergriffen. Sie ist es, die sich auszieht und sich anbietet.

Allerdings ohne Vorstellung dessen, was dann passieren wird?
Sie hat absolut keine Ahnung. Wichtig ist, dass sie tapfer ist. Das sieht man nur selten im Kino. Mir als Filmemacherin ist es wichtig, weibliche Charaktere zu erschaffen, die die Initiative ergreifen. Ohne Stereotypen, denen Mädchen folgen müssten. Ohne das, was 99 Prozent tun, wenn sie Teenager sind, wenn sie Ende zwanzig sind. Nichts Typisches.

Sie beschreiben die Emotionen Ihrer Figuren mit Hilfe von Musik. In dem Fall mit Musik der Band Suicide und Françoise Hardy. Musikstile, die nicht viel miteinander verbindet. Ist das Ihr Statement?
Ja. Ich kombiniere Dinge, die man nicht kombiniert oder nicht kombinierbar sind. Wie chemische Reaktionen. Das mag ich sehr. Gerade Musik, die nicht im Verdacht steht, Hippster-Musik zu sein. Lustigerweise höre ich in immer mehr Bars Suicide und Françoise Hardy. Das wirkt zusammenhanglos, aber auch romantisch.

Ihre beiden Hauptdarstellerinnen sind Tänzerinnen. Ein Zufall?

Ja, wobei ich Ariane Labed eher als Performerin, übrigens eine der besten in Griechenland, bezeichnen würde. Sie begann als Balletttänzerin, ist heute eine sehr physisch spielende Theaterschauspielerin. „Attenberg“ war ihr erster Film. Mir war es wichtig, jemanden unschuldiges, der von Method Acting und Co. keine Ahnung hat, zu nehmen. Jemand mit Köpfchen, der ein Gefühl für seinen Körper hat. Gerade zu stehen, ist das schwierigste, was ein Schauspieler leisten muss. Bei den Proben gingen wir unheimlich viel. Wir stellten uns Fragen wie: Wie überquere ich eine Kreuzung?
Habe Sie diese an Monthy Python erinnernden „Silly Walks“, mit denen Sie Ihre Handlung immer wieder unterbrechen, gemeinsam mit Ihren Hauptdarstellerinnen entwickelt?
Die waren so im Buch vorgesehen. Sie sollten dummes Zeug machen und wie Tiere gehen. Zur Vorbereitung schauten wir „Ministry of Silly Walks“ von Monthy Python. Dazu mussten die beiden sich viele Attenborough-Tierdokus ansehen und Tierbewegungen studieren. Als Tänzerinnen brachten sie Unmengen von Ideen ein und wir improvisierten.

Fanden die beiden einen Zugang zu den Tierdokus?
Die liebten sie. Wir waren alle von den Dokus und den Tieren besessen. Ich mag Hunde und Wale, aber auch Schnecken.

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