Rückblick auf die erste Ausgabe des „Korean Cinema Today“
Festivalbericht 2012: Die Geduld der Koreaner
Kultur wird im Wesentlichen verstanden als die Gesamtheit der Verhaltenskonfigurationen einer Gesellschaft, als System der überlieferten Vorstellungen, die den Menschen im Leben Orientierung geben und ihre Wertvorstellungen und Verhaltensweisen prägen. Kultur ist also eine durch menschliches Handeln prägende, sich dabei stetig wandelnde Tiefenstruktur. Das ostasiatische Wertesystem und speziell das koreanische zeichnen sich durch die Jahrtausende gewachsenen Grundwerte aus. Es basiert auf einer Synthese schamanistischer, buddhistischer, konfuzianischer und taoistischer Philosophie und ihrer Varianten. In der westlichen Tradition ist das kulturelle Miteinander geprägt durch Ciceros „Salus populi suprema lex esto“ (Das Volkswohl soll höchstes Gebot sein). In der koreanischen Tradition haben die naturrechtlichen Morallehren eine vergleichende Funktion, allerdings haben die aus der Aufklärung stammenden Ideale von Gleichheit, unabhängiger Justiz, Bürgerrechten und Demokratie kein Äquivalent. Sie wurden erst Mitte des 20.Jahrhunderts implantiert. So ist das Design vieler koreanischer Filme europäisch, die Wertvorstellungen ihrer Protagonisten ostasiatisch. Nun mag einer sagen, dass das chinesische und japanische Kino mit einem ähnlichen Bruch aufwartet, nur gestaltet sich dieser in Korea anders. Korea kämpft um (s)eine Identität. Es kann wenig Simplifizierendes, Stereotypentaugliches anbieten. Der Japaner hat den Samurai. Der Chinese hat Kung Fu. Der Koreaner, tja, der lässt sich bei der Entfaltung seiner Geschichten viel, für europäische Verhältnisse zu viel Zeit.
Für das vergangene Korean Cinema Today musste man darum Sitzfleisch mitbringen. Seinen Anfang nahm das Ganze mit Lee Changdongs „Poetry„. In der ersten Szene spielen Kinder am Ufer eines Flusses. Es ist idyllisch und unberührt. Der Fluss fließt und transportiert dabei ein totes Mädchen. Die Kinder wissen nicht so wirklich, wie sie dieses Bild einzuordnen haben. Dann der Schriftzug „Poetry“. Bei dermaßen ätzendem Sarkasmus kann man sich ein trockenes Lachen nicht verkneifen. Anschließend folgt die Kamera ganze 139 Minuten einer an Alzheimer erkrankten Frau, die notgedrungen ihren Enkel aufzieht, der wiederum am Tod des Mädchens eine entscheidende Mitschuld trägt. Ihr Bemühen um kreative Entfaltung sollte nicht unterschlagen werden. Außerdem muss sie Beihilfe leisten, um den Mord an dem Mädchen zu vertuschen. Das klingt, um das abgedroschene Wort mal zu verwenden, postmodern.
Doch die koreanische Kultur ist eine postmoderne und der Ort des Films ist eine Provinzstadt. Im frühhistorischen Korea, in Alt-Choson bildeten Staat und Religion eine Einheit. Die Rechtsordnung schützte Leben und privates Vermögen. Die agrarwirtschaftliche Gesellschaft mit einem Patriarchen an der Spitze unterschied zwischen Adeligen und Sklaven. Die Tote ist die Tochter einer einfachen Bäuerin. Die Täter kommen überwiegend aus vermögenden Verhältnissen. Sie denken nicht daran, die bestehende Ordnung aufzugeben. So muss die 66jährige alte Dame ihren Anteil am Schweigegeld auftreiben. Interessant dabei ist, dass das Kriminalmotiv deutlich im Hintergrund steht. Die große Leistung dieses Films besteht darin, das Unvermögen zur Artikulation in Bildern festzuhalten. Man merkt, dass dieser alten Dame eine Menge durch Kopf geht, nur sie findet keine passenden Worte. Ihre Verzweiflung manifestiert sich schließlich in einem Gedicht, was am Ende des Films vorgelesen wird und dabei von der Stimme eines Nachhilfelehrers zur Stimme der alten Frau und zur Stimme des toten Mädchens wechselt.