Waiting for Raoul – Ein Rückblick auf das 65. Filmfestival von Cannes


"Holy Motors" ist eine verstörende Parabel auf das Kino selbst, ist Schwanengesang und Huldigung, Zerstörung und Wiederaufbau des Mediums., Foto: Filmfestivals Cannes

"Holy Motors" ist eine verstörende Parabel auf das Kino selbst, ist Schwanengesang und Huldigung, Zerstörung und Wiederaufbau des Mediums., Foto: Filmfestivals Cannes

Der außergewöhnlichste und mutigste Film des gesamten Festivals aber ging leider völlig leer aus: Leos Carax‘ „Holy Motors“ ist eine verstörende Parabel auf das Kino selbst, ist Schwanengesang und Huldigung, Zerstörung und Wiederaufbau des Mediums vom wohl einzigen wirklich freien Radikalen des gesamten Festivals. Definitiv kein Film für die große Masse, aber für die Filmverrückten, die Freigeister und diejenigen, die im Kino nicht das Gewohnte suchen, sondern sich der Verunsicherung aussetzen. Denn bei aller Freude über einen wie gesagt guten Jahrgang: Gerade in Cannes, wo Filmkunst und das Kino als Ware seit Jahren ihre geregelten parallelen Bahnen ziehen, bedarf es ab und an eine heftigen Erschütterung, die die zur Schau getragene Selbstgewissheit wenigstens für einen Moment aufbricht, die Gesichtszüge entgleisen und Münder weit offenstehen lässt. Selbst auf die Gefahr hin, dass man am Ende des Films ausgebuht wird.

Neben diesen Filmen gab es vor allem einen weiteren in der Reihe Un Certain Regard, der einen tiefen Eindruck hinterlassen hat. Benh Zeitlins „Beasts of the Southern Wild“ (der ebenfalls in Deutschland im Kino starten wird) beispielsweise war bereits in Cannes mit den Vorschusslorbeeren eines Preises aus Sundance angereist, konnte auch hier vollauf überzeugen und erhielt völlig zurecht die Camera d’Or als bester Erstling. Nimmt man jedenfalls das diesjährige Festival von Cannes als Maßstab für die Großwetterlage des Kinos, steht es darum langfristig gar nicht so schlecht und keinesfalls so regnerisch und trüb, wie das Wetter in den ersten Tage an der Côte d’Azur dies vermuten ließ. Da schüttete es nämlich so sehr, dass man zumeist triefnass im Palais de Festival saß und mein Kritikerkollege Patrick aus Berlin „dank“ seiner Erkältung seine Stimme verlor – was ihm andererseits auch eine coole Aura gab. Denn bei so viel Filmkunst und Bockmist, Cinephilie und Wichtigtuerei, wie man sie Jahr für Jahr in Cannes in extremster Ballung antrifft, fehlen einem manchmal wirklich die Worte.

Ob jener laut beschrieene „Raoul!“ in diesem Jahr wieder mit von der Partie war und sich vor jedem Wettbewerbsfilm über die kleine Huldigung an seine Person und das kleine Missgeschick vor vielen Jahrzehnten freute, wissen nicht mal Eingeweihte. Eines aber steht fest: Nächstes Jahr sehen wir uns wieder an der Croisette – versprochen!

Joachim Kurz

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