Rückblick auf das 9. Indische Filmfestival Stuttgart
Tabubruch und Plastikelefanten
Im Grunde waren es dann auch oft die Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Filmkulturen, die das indische Filmfestival dieses Jahr bestimmten – dies wurde oft genug in der narrativen Struktur, den Plots und der Charakterführung deutlich. So erinnerte beispielsweise der mit dem indischen Starschauspieler Irrfan Khan besetzte „Paan Singh Tomar“ (Indien 2010) stark an „Forrest Gump„, was sich nicht nur in der zufälligen Sportlerkarriere des Protagonisten Paan Singh Thomar spiegelte. Tigmanshu Dhulias Film erzählt die authentische Geschichte des Athleten Tomar, der mehrere Wettbewerbe gewinnt und im Anschluss an seine Sportlerkarriere ins Lager der indischen Dacoit Rebellen wechselt. Dieser interessante, biografische Versuch wird leider durch allzu viele Wiederholungen und pathosüberladene Einstellungen schnell uninteressant; es hilft nicht sonderlich, dass Tomar seinem cineastischen Vorbild Forrest Gump in Sachen Naivität, Starrköpfigkeit und Patriotismus in nichts nachsteht. Auch der von der Jury mit dem Directors Vision Award bedachte „Delhi in a Day“ (Prashant Nair, Indien, 2011), der den jungen Engländer Jasper auf indische Exotismen und exotische Schönheiten treffen lässt, gemahnt in seiner Ausführung an amerikanische Abenteuerdramen wie „Sieben Jahre in Tibet„.
Neben diversen großherzigen Familien – und Kinderfilmproduktionen wie „Dekh Indian Circus“ oder dem Kinderfilm „Gattu“ und überzeugend erfrischenden Komödien wie „All in Good Time“ krankten einige Einreichungen an ihrer Überzeichnung. Der im Stil eines Krimis aufgemachte „Michael“ (Ribhu Dasgupta, Indien, 2011) kann trotz seines hervorragenden Hauptdarstellers Naseeruddin Shah und seiner beklemmenden, klaustrophobischen Stimmung nie sein volles Potential entfalten. Michael, der vor einigen Jahren auf einen Schießbefehl hin in eine demonstrierende Menschenmenge schoss und dabei unwissentlich einen 12-jährigen Jungen tötete, plagen die Alpträume und Anrufe eines alt bekannten Absenders: Der Vater des damals getöteten Jungen droht damit, Michaels eigenen Sohn zu töten. Für Michael, der sich nur durch Raubkopieren über Wasser hält, beginnt ein Rennen gegen die Zeit. Die langen Kameraeinstellungen, das gefühlt 100 Mal klingelnde Telefon und die komplette Auflösung des Spannungsbogens am Schluss des Films wirken eher enervierend als atmosphärisch verdichtend.
„Michael“ oder auch der uninspirierte „Fernes Land“ (Kanwal Sethi, Deutschland, 2011) machten wiederholt deutlich, dass sich die Vielfalt des indischen Films nicht immer auf überzeugende Art und Weise abbilden lässt – zu oft wirkte die Auswahl der Filme beliebig. Ganz und gar nicht beliebig hingegen war die Vergabe des German Star of India in der Kategorie „Spielfilm“, dem Hauptpreis des Festivals, an „Kshay“ (Karan Gour, Indien, 2011). Mit seinem künstlerischen Schwarz-weiß, seiner Konzentration und der wirklich großartigen Hauptdarstellerin Rasika Dugal bringt „Kshay“ alles mit, um das Independent-Publikum in seinen Bann zu ziehen. Im Zentrum des Films steht die Obsession einer jungen Frau für eine Statue der Göttin Maha Lakshmi, die Wohlstand und Glück verkörpert. Dabei weicht die anfängliche Normalität einer vermeintlich glücklichen Beziehung schleichend dem bildgewordenen Wahnsinn und der unvermeidlichen Eskalation. Wer sich an Flashbacks, an metaphorischen Traumsequenzen und Ausformulierungen nicht stört, wird „Kshay“ als zeitlosen Kunstfilm für sich entdecken können, der sich jenseits von Bollywood befindet.
Marie Ketzscher