Regisseur Olivier Assayas im Interview zu “Die wilde Zeit”

Filme sollten Fragen stellen


Gilles (Clément Métayer) und seine Freunde stehen für Assayas und seine Freunde in den 1970er-Jahren. (c) NFP Carole Bethuel

Gilles (Clément Métayer) und seine Freunde stehen für Assayas und seine Freunde in den 1970er-Jahren. (c) NFP Carole Bethuel

Ein recht schlechtes Zeugnis für die Jugend. Was unterscheidet die Generationen?
Darüber denke ich häufig nach. Du kannst nicht mehr machen, als die jeweilige Epoche zulässt. Diese Generation in den 70ern war nichts Besonderes, aber sie war erschreckend wegen ihrer Energie. Die 60er und gerade die 68er waren so nah an einer Revolution, wie man nur sein kann. Sie waren kurz davor die französische Regierung abzusetzen. Eine Bewegung, die um die ganze Welt schwappte. Das verbindet die soziale Geschichte des 20. Jahrhunderts. Sie waren politisiert. Darum drehte sich ihr Leben. Sie teilten die Überzeugung, die sich aus der Bewegung herauskristallisierte, die besagte, dass die alte Welt sich überlebt hat. Der Mai 1968 bleibt als verfehlte Revolution in Erinnerung. Da wurde Geschichte gemacht. Man las von der russischen Revolution und vom spanischen Bürgerkrieg, über Marxismus – und das nicht, weil du dich so sehr mit Geschichte auseinander setztest, sondern weil die Geschichte diese Zeit so beeinflusste. Es ging darum, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Aus dem Interesse an der Vergangenheit entwickelte sich eine Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Heute sind sowohl das Wissen um die Vergangenheit, als auch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verschwunden. Und doch ist die Jugend an der heutigen Politik interessiert. Das kommt zurück. Aber was in den 70ern passierte war vollkommen anders. In den 70ern verfolgte man Utopien in denen die die Gesellschaft gestürzt wird. Alles darunter wurde als Reform abgetan und Reformen waren Beleidigungen. Die heutige, sehr pragmatische Politik wurde dadurch geprägt. Wenn sie heute etwas erreicht, dann weil sie so pragmatisch ist. Das ist heute eine andere Welt mit einer vollkommen anderen Metaphysik.

Was kann Film politisch leisten?
Ich bin Filmemacher und kein Politiker. Ich denke Filme sollten Fragen stellen und keine Antworten suchen. Die 70er waren immer schlecht oder falsch dargestellt. Sie wurden verteufelt oder idealisiert und beides ist falsch. Es ist einfach sich über die 70er lustig zu machen, weil sie so extrem und verrückt waren. Sie waren aber nie peinlich. Sie hinterfragten den Materialismus dieser Zeit und den Schnitt, der durch die Gesellschaft geht. Wer aber nur von den tollen 70ern erzählt, in der jeder politisch aktiv war, spielt die Komplexität der damaligen Politik mit ihren vielen Konflikten herunter. Die Seiten standen sich wie Antagonisten gegenüber: Auf der einen eine Gesellschaft mit sehr steifen Wertvorstellungen und auf der anderen die radikale Linke, die alles verändern wollte: Sexuelle Freiheit, Drogen und Rock ’n’ Roll, all das zerstörte die Arbeiterklasse. Eine soziale Revolution.

Was werfen Sie der Linken vor?
Der Fehler der europäischen Linken war ihr Dogmatismus und sie war zu nachsichtig mit totalitären Ideologien, insbesondere mit China und Russland. Als Kommunisten konfrontierten sie die kommunistische Partei nur sehr zurückhaltend bezüglich ihrer Menschenrechtsverletzungen, während sich Teile der Linken radikalisierten und zum Terrorismus verkamen was viele verschreckte. Dieser Terrorismus in Europa vollendete das Desaster der Linken. Ein Fehler, der viele Hoffnungen begrub.

Die Fragen stellte Denis Demmerle.

„Die wilde Zeit“, Regie: Olivier Assayas, Darsteller: Clément Métayer, Lola Creton, Carole Combes, Kinostart: 30. Mai 2013

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