Regisseur Jean-Pierre Améris zu „Sprache des Herzens“…

Das Genie des Menschen



Die Arbeit mit besonderen Menschen zieht sich durch Ihr Werk. Wie ist Ihr persönliches Zugang dazu?
Ich mache diese Filme, weil ich mich damit identifiziere. Mich interessieren Menschen, die an den Rand der Gesellschaft gedrückt werden, deren Körper vielleicht nicht so perfekt ist, wie wir gewohnt sind. Menschen, die eingesperrt sind und ein Handicap überwinden müssen. Das trägt autobiographische Züge, ich an einem gewissen Punkt in meinem Leben war ich nicht in der Lage, auf andere Menschen zu zu gehen und habe das mit meinem Film „Die anonymen Romantiker“ thematisiert. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man versucht, ein inneres Gefängnis zu überwinden. Mir geht es darum, Empathie für Menschen am Rande der Gesellschaft aufzubauen.

Regisseur Jean-Pierre Améris. © 2014 Concorde Filmverleih GmbH

Regisseur Jean-Pierre Améris. © 2014 Concorde Filmverleih GmbH

Dieses innere Gefängnis kennt auf die ein oder andere Weise jeder. Unterscheiden sich die Wege aus diesem Gefängnis heraus?
Ganz wichtig ist, keine Angst haben zu dürfen. Man muss sich verhalten, wie sich Marguerite gegenüber Marie verhält, die sofort den ganzen Menschen sieht. Sie sieht nicht das Handicap, sondern den ganzen Menschen und spürt, dass ihr ein Kommunikationsmittel fehlt. Sie spürt die Intelligenz. Es gibt immer eine Lösung. Mich hat der Austausch interessiert. Es geht nicht darum, dass die Nonne Marie alles beibringt. Im Gegenteil, sie lernt dadurch unglaublich viel von Marie. Sie lernt Mütterlichkeit, lernt Liebe zu empfinden. In den existierenden Texten, die ich nutzte, um das Drehbuch zu schreiben, sagt Marguerite, dass Marie ihr ganz viel beigebracht hat.

Sie sagen „Intelligenz spüren“, das ist ein interessanter Ausdruck. Wie spürt man Intelligenz?
Intelligenz existiert, die ist schon da. Ich habe mich jahrelang mit jungen Menschen, die in diesem Zentrum aufwachsen, beschäftigt. Das ist genau der Ort, in dem Marie Heurtin gelehrt hat, nur dass er seit den 1960er Jahren nicht mehr von Nonnen geführt wird. Noch heute kommen dort blind-taube Menschen an und es ist immer derselbe Prozess. Die Intelligenz existiert schon vor dem Ausführen der Sprache. Man muss das stimulieren, das wecken. Ihnen beibringen, wie sie sich mit der Welt verbinden können. Dazu muss man Vertrauen aufbauen, weil ein junger blind-tauber Mensch erst mal misstrauisch ist und sich fragt, was es bedeutet, wenn er berührt wird. Was bedeutet ein Bad? Will man ihn ertränken? Das muss man überwinden. Man muss das mit den Menschen machen und das ist viel Arbeit. Es dauert, bis dieser Funke überspringt.

Im Film kommt Maries Taschenmesser diese Funktion zu…
In dem Moment, in dem Marie lernt, dass es für Taschenmesser einen Begriff gibt, öffnet sich eine Tür. Von dem Punkt an, kann sie weitergehen. Sie lernt, dass es für Durst und Hunger Begriffe gibt, die sie ausdrücken kann. Ab diesem Punkt lassen sich soziale Verbindungen aufbauen. Sie werden sich bewusst, in welcher Umwelt sie leben. Diese jungen Menschen machen unheimlich viel, sie arbeiten, sie tanzen. Ich habe einen Kellner kennen gelernt, der noch nie ein Glas oder einen Teller kaputt gemacht hat. Es ist Arbeit, aber man kann unheimlich viel erreichen. Für mich besteht das Genie des Menschen darin, immer wieder neue Kommunikationsmöglichkeiten zu finden. Ein Mensch, der nicht kommunizieren kann, stirbt.

1 2 3