„Wer internationale Filme zeigt, interessiert sich für die Welt und für die Interaktion mit ihr.“ – Frédéric Jaeger, Leitung Programmorganisation Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg


Sie sagen, in einer der Pressemitteilungen, dass sich ein „feministischer“ roter Faden durch das Programm ziehe. Können Sie das genauer charakterisieren?

SK: Das beginnt mit unserer Retrospektive „Le deuxième souffle – Die zweite Generation 1968-83“. Nelly Kaplans LA FIANCÉE DU PIRATE ist eine sehr pointierte, mehrfach gebrochene Abrechnung mit patriarchalen Strukturen. Das zieht sich durch dieses Post-68-Kino: Was war eigentlich mit „sexueller Revolution“ gemeint, welche Rolle können Frauen in dieser „neuen“ Gesellschaft einnehmen? Die von Männern realisierten Filme dieser Zeit beschäftigen sich interessanter Weise fast alle geradezu manisch mit der eigenen Kindheit im Nachkriegsfrankreich. Die von Frauen realisierten Filme reflektieren sehr viel deutlicher das „Hier und Jetzt“. MON COEUR EST ROUGE (von Michèle Rosier) feiert an einem Tag die Freiheit seiner Protagonistin. So weit, dass er sie schließlich ganz aus der Handlung entlässt… SIMONE BARBÈS OU LA VERTU (von Marie-Claude Treilhou) positioniert seine äußerst unabhängige lesbische Protagonistin in einem Pornokino. Und NEIGE (von Juliet Berto und Jean-Henri Roger) gewährt einer Barbesitzerin die tragische Rolle als Strippenzieherin im Drogenmilieu – die Eroberung des Genreterrains. Ein zentraler Film dieser Zeit, den wir in der Auswahl hatten, online aber leider nicht zeigen können, ist JEANNE DIELMAN (von Chantal Akerman). Das ist nichts weniger als ein feministisches Manifest.

Diese Filme und ihrer Macherinnen sind ganz klar Wegbereiterinnen vieler Regisseurinnen, deren neueste Filme dieses Jahr bei uns zu sehen sind. Und wenn man mit ihnen spricht, wird deutlich, dass sie sich selbst als feministische Stimmen verstehen. Das ist nichts, was man von Außen herantragen muss, es ist offensichtlich da. Uns als Programmteam interessiert es, weil wir eine Diversität der Stimmen spannend finden und neue Perspektiven suchen.

Still aus LA FIANCÉE DU PIRATE © Lobster Films

Still aus LA FIANCÉE DU PIRATE © Lobster Films


Gab es für die Auswahl der Filme eine selbsterlegte Quote in Bezug auf Diversität und Geschlechtervertretung?

SK: Wenn man wie beschrieben an die Sache herangeht, bedarf es, glaube ich, keiner Quote. Letztlich zeigen wir die Filme aufgrund ihrer Qualität, unabhängig davon, wer sie produziert oder inszeniert hat.

FJ: Ein Programm zusammenzustellen, heißt, erst einmal zu überlegen, welche Quellen es für dieses Programm gibt. Mit jeder Quelle kommen unterschiedliche Filme und unterschiedliche Filter oder Gatekeeper. Wenn es einem wie uns darum geht, die Ungerechtigkeiten im Zugang zu Mitteln der Produktion und der Distribution nicht einfach hinzunehmen, muss man da ansetzen: neue Wege der Recherche finden.

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