BEING THUNDER von Stéphanie Lamorré


Still aus BEING THUNDER, Stéphanie Lamorré © Frameline 2021
Still aus BEING THUNDER, Stéphanie Lamorré © Frameline 2021

Kein Platz für Grenzen

Sherenté ist 17 Jahre alt, two-spirited und gehört zum indianischen Stamm Narraganset. Die französische Filmemacherin Stéphanie Lamorré begleitet in ihrem Dokumentarfilm BEING THUNDER mit vielen Nahaufnahmen Sherentés Leben für einen kurzen Augenblick, zeigt Hoffnungen, Träume, einen täglichen Kampf für Akzeptanz und berührende zwischenmenschliche Momente. Two-Spirit zu sein bedeutet, zwei Seelen unterschiedlichen Geschlechts in sich zu vereinen und ist ein Begriff, der schon sehr lange in der indigenen Bevölkerung Nordamerikas existiert.

BEING THUNDER beschreibt vor allem die Herausforderungen, denen sich Sherenté gegenübergestellt sieht, seitdem der Stamm weiß, dass Sherenté two-spirited ist. Da ist zum Beispiel Sherentés Begeisterung für einen Schautanz beim Powwow, der ausschließlich von Cis-Frauen performt wird. Bei Powwows handelt es sich um Treffen von nordamerikanischen Indigenen, bei denen die Stammeskultur gefeiert wird. Sie sind wichtige Veranstaltungen, um die kulturelle Identität und Zugehörigkeit zu stärken und ein Besinnen auf die vorkolonialen Traditionen des Stammes zu fördern.

Bei diesen Treffen und den dazugehörigen Tanzwettbewerben begegnet Sherenté Diskriminierung, aber auch Solidarisierung. Stéphanie Lamorré blickt sensibel auf Sherenté und zeigt das liebevolle Miteinander innerhalb von Sherentés Familie, in der Ausgrenzung keinen Platz hat. Die aktuelle Familiengeschichte wird durch Sherentés Aussagen und die der weiteren Familienmitglieder kontextualisiert. Sie schildern kurz die zahlreichen Tragödien von Diskriminierung und physischer Gewalt an Vorfahren und Verwandten. Vor allem die Großmutter nimmt einen wichtigen Platz in Sherentés Erzählungen ein und scheint ein wichtiger Einfluss zu sein.

Die Geschichte der Vorfahren ist jedoch nicht nur eine Familiengeschichte, sondern auch eine Geschichte des Stammes und seiner kulturellen Identität. Sherenté muss mit 17 Jahren einer Menge komplexer Herausforderungen begegnen: die an sich schon anstrengende Achterbahnfahrt eines Teenagerlebens, der Wunsch als Mitglied eines Volkes reich an Kultur in der Gesellschaft sichtbar und innerhalb des Stammes als two-spirited akzeptiert zu werden. Vor allem die Akzeptanz innerhalb des Stammes ist Sherenté wichtig, denn das Nicht-akzeptieren von Two-Spirits beruht auf den kolonialen Denkweisen, die die Narraganset eigentlich ablehnen. Sherentés Familie setzt sich deshalb dafür ein, die eigene Kultur nicht zu vergessen, sie erkennen Two-Spirits als wertvollen Teil der Identität der Narraganset an. Diese Entschlossenheit verkörpert Sherenté beim Tanz, beim Aktivismus und im täglichen Leben.

Stéphanie Lamorré hat einen sehr intelligenten und berührenden Film geschaffen, der die Zuschauer:innen behutsam auf eine Reise mitnimmt und viele aktuelle gesellschaftliche Diskurse anhand von Sherentés Leben thematisiert. So ist ein sehr empfehlenswerter Dokumentarfilm entstanden, der durch seine Authentizität unter die Haut geht.

Michaela Grouls

BEING THUNDER feierte 2021 seine Weltpremiere beim kanadischen Inside Out Filmfestival und seine US-Premiere beim Frameline Film Festival in San Francisco.

Wer mehr von Sherenté sehen und hören möchte, sollte sich auch den Ted Talk an der University of Rhode Island von 2019 anschauen.

BEING THUNDER, Regie: Stéphanie Lamorré, online in der Arte-Mediathek zu sehen.