BFF on the road: DOK Leipzig 2021 (25. bis 31. Oktober)
Jetzt aber bitte ein bisschen still sein!
Es ist wieder einer dieser sehr stillen Momente in A NIGHT OF KNOWING NOTHING von Payal Kapadia. Ein Brief wird gelesen, eine Kerze flackert. Und neben mir schraubt jemand geräuschvoll seine Thermoskanne auf, schlürft ein bisschen beim Nippen und schraubt dann wieder geräuschvoll zu. In der letzten Reihe hustet sich derweil eine andere Person beherzt die Bronchen frei; ach, wie gern man das in Pandemie-Zeiten hört! Bei der diesjährigen DOK Leipzig (25.-31. Oktober sowie 1.- 14. November im DOK Stream) brannten sich also auch die auditiven Erlebnisse ganz stark ein. Ob das vielleicht damit zu tun hatte, dass man ungehindert mit allen Sinnen Kino erleben konnte? Bei der Dokfilmwoche hatte sich das Team nämlich für geringere Besucher*innen-Kapazitäten entschieden, dafür aber für die Aufhebung der Maskenpflicht. Sehr viel menschliches Schauen, Sich-Zublinzeln und dann natürlich auch personenbezogenes Ärgern war da möglich, ganz im Gegensatz zur Viennale (komplette Auslastung bei gleichzeitiger Maskenpflicht), bei der sich das Gefühl des gemeinsamen Guckens nur in den Q&As einstellte.
Die unglaubliche geräuschliche Aktivität während A NIGHT OF KNOWING NOTHING war aber vielleicht auch zum Teil dem herausfordernden opak-atmosphärischen Charakter des Filmes geschuldet, der in der Kategorie Camera Lucida (außer Konkurrenz) lief. Der im Stil von 16mm (und zum Teil auch als 16mm) gedrehte Film beleuchtet die studentischen Unruhen nach dem Einsetzen eines neuen Dekans an der Filmuniversität aus der Sicht zweier Protestierender als Erwachen aus dem Liebestaumel, genauer: Durch die Briefe der Studentin L an den Studenten K, der einer höheren Kaste angehört. Das ist ungemein interessant, weil man vom Aufbegehren von Teilen des akademischen Betriebs gegen Modi, seine nationalistische Politik der Polarisierung und seinen Nepotismus erfährt (inklusive sozialistischer Utopie und Bekämpfung von Studiengebühren), aber auch ungemein spezifisch, in Form und Sujet zugleich. Und wäre es nicht auch schöner gewesen, das Zusammenspiel von libidinös-amouröser und revoltierender Energie auch in den Briefen einzufangen statt das ernüchternde Absetzen der rosaroten Brille in den Fokus zu stellen?
Ebenfalls unglaublich intensiv für Augen und Ohren waren viele der Animationsfilme im Internationalen Wettbewerb. Oder lag es nur am augenscheinlich fehlenden Tech Check beim Animationsprogramm 2, bei dem der Ton überhaupt nicht austariert wirkte? Der laute Pegel machte jedenfalls einige Filme noch schriller und hysterischer, als sie es ohnehin schon waren, so zum Beispiel SQUISH! von Tulapop Saenjaroen oder auch THE FOURTH WALL von Mahboobeh Kalaee (der allerdings mit seinem interessanten Stilmix sehr beeindruckte). Die Stille und das Nicht-Geschehen waren hingegen an ABANDONED VILLAGE von Mariam Kapanadze, produziert von Mariam Kandelaki, mit das Schönste. Was anfangs wie ein abstraktes Gemälde wirkt, gibt sich schnell als wolkenverhangener Blick auf ein verlassenes georgisches Dorf zu erkennen. Die Kameraeinstellung ändert sich nicht, immer verweilt der Blick auf dem Dorf (beruhend auf 21 Öl-Gemälden von Irakli Toklikishvili), über das der Tag mit Licht und Schatten hinweggleitet bis zur Nacht. So, dass wir zum Nachdenken kommen über die Geschichte des Ortes, die wir durch den Alltags-Geräuschteppich erahnen können. Poetisch ist das, auch wenn dem Ganzen ein etwas romantisierender Gestus anhaftet.
Das Nachdenken über das „Ursprüngliche“, Zuerst-Dagewesene, Wesentliche war ein oft anzutreffendes Motiv im Nationalen und Internationalen Wettbewerb. Es gab schön fotografierte, aber nichtsdestotrotz allzu sehr durch den westlichen Sabbatical-Blick geprägte Betrachtungen über den Rückzug in die Natur (DUST OF MODERN LIFE von Franziska von Stenglin), Annäherungen an „Heimat“ als durchkomponierte Ablehnung derselben (VOR ZEIT von Juliane Henrich) oder auch Familiengeschichte als Mikrokosmos chinesischer Gesellschaftstransformation (FATHER von Wei Deng, der die Goldene Taube gewann). Das Private mit dem Politischen verknüpfen – das gelang Betina Kuntzsch mit ihrem KOPF FAUST FAHNE – PERSPEKTIVEN AUF DAS THÄLMANN-DENKMAL, der das Ernst-Thälmann-Denkmal im Prenzlauer Berg historisch und zugleich höchst intim zugleich in Form einer Anthologie aus zehn Kurzfilmen beleuchtet. Unterhaltsam ist das und erhellend, einzig der Wermutstropfen bleibt, dass Kuntzsch die Animation hier so überaus im Sinne des erklärenden AniDocs und weniger als ihre Kurzfilme WEGZAUBERN und HALMASPIEL als Medium mit eigener Berechtigung nutzt.
Re:Animation: Als gelungene Gegenüberstellung bzw. Dialog zwischen zwei Filmemacher*innen präsentierte die DOK Leipzig allerdings die „Animation Perspectives“ mit Randa Maroufi aus Tunesien und Claudia Larcher aus Österreich, die beide mit strengen Formen und Fotografie arbeiten – und mit Animation, die oft auf den ersten Blick nicht als solche zu erkennen ist. Während Larchers ihre Filme als One-Shot-Kamera-Fahrten oft durch die Fotografien einzelner Räume montiert und so im fortlaufenden Panorama zunehmend Verfremdungseffekte erzielt, wechselt Maroufi zwischen wenigen Perspektiven in einander fließende Plansequenzen mit in der Bewegung eingefrorenen Protagonist*innen, und kommentiert so pointiert soziale Rollen und Konflikte. Dabei entstehend herrlich irritierende und bisweilen beunruhigende Momente, irgendwo zwischen Kino und Installation. Zum Beispiel in Larchers HEIM, eine endlose Fahrt durch das still liegende, scheinbar menschenleere Elternhaus, in dem plötzlich der Vater bewegungslos im elterlichen Bett liegt – und dessen plötzliche Präsenz unheilvoll wirkt, als wäre er gestorben oder aus dem Leben gerissen worden. Aber nur so lange, bis die Kamera weiterrollt und der Vater wohlauf Rasenmäher fährt, natürlich nur durch das Fenster kurz eingefangen. So klein, so subtil zeigt Larcher, wie nahe Drama/Trauma und Humor beieinander liegen. Ein präzises Sound Design hat hier einen großen Anteil an der faszinierenden Strenge und Komposition, wie überhaupt an Larchers fantastischen Filmen. Überhaupt Humor: Maroufi und Larcher gaben spannende Einblicke in ihr Arbeiten und taten dies mit viel Augenzwinkern, was das Publikum auch zu später Stunde noch am Ball bleiben ließ.
Während sich die groß erwarteten Filme eher etwas enttäuschend ausnahmen, überraschten die Zufallskinoerlebnisse, zum Beispiel als es plötzlich nur noch Tickets für VEINS OF THE AMAZON gab, dem neuen Film der Brüder Álvaro und Diego Sarmiento zusammen mit Terje Toomistu. Er konzentriert sich auf die Frachter, die durch die verschlungenen Arme des peruanischen Abschnitts des Amazonas navigieren und so auch Menschen in abgelegenen Gebieten erreichen. Es gibt keine klaren Protanist*innen, nur die heterogenen Stimmen/Geschichten des Schiffpersonals und der Passagier*innen – vom queeren Koch bis zu einer israelitischen Gemeinde, die nachts das Schiff besteigt – sowie die dokumentierenden Bilder der Fracht, die von der Cola-Flasche zum Stier reicht. Die Kamera bleibt an Bord des Schiffes, ist nah dran, im richtigen Moment zugegen. Ohne große Effekte inszeniert, gibt der VEINS OF THE AMAZON wahnsinnig faszinierende, nie verklärende oder exotisierende Einblicke, deren überlegte Auswahl sicherlich auch durch die indigene Perspektive der Filmemacher*innen bedingt ist. Und subtil, aber nie in your face führt der Film die Abhängigkeiten der globalen Vernetzung und Folgen der kolonialen Ausbeutung vor Augen, denn die Schiffe folgen der Route des Kautschukbooms im 19. und 20. Jahrhundert. Oft sind sie gefährlich überladen und mit den süßen Drinks des Westens ausgestattet, aber sie transportieren eben auch das Versprechen von Wohlstand, Reise und Veränderung. Verbunden-Sein und Teilhabe mit allen dazu gehörenden Widersprüchen und Kompromissen. Das Verwertungs- und handelsrad, das sich unaufhörlich dreht und sich nie vermutlich stoppen, aber ganz sicher nicht zurückdrehen lässt.
Als poetisch-unaufgeregtes Feelgood-Movie nahm sich dagegen THE BALCONY MOVIE aus, der die Goldene Taube im Publikumswettbewerb mit nach Hause nehmen durfte. Paweł Łoziński filmte zwei Jahre von seinem Balkon aus die vorbeilaufenden Passant*innen und Nachbar*innen. Trotz oder wegen seiner einfachen, großen Fragen („Wer bist du?“ oder auch „Was ist der Sinn des Lebens?“) fangen die meisten vor die Kameralinse Gelaufenen ganz plötzlich und intim an, aus dem Nachtkästchen zu plaudern. Eine alte Frau lamentiert den Tod ihres Mannes vor zig Jahren – und bedauert, ihm nicht genug ihre Liebe gezeigt zu haben. Ein ehemaliger Knastbruder lässt an seinem (Nicht)Ankommen in Freiheit teilhaben. Das ist rührend und oft sehr lustig. Ein bisschen Larcher-Strenge (beispielsweise die Reduktion auf eine Kamera-Einstellung, eine härteres Kill-Your-Darling-Prinzip bei den Protagonist*innen) hätten THE BALCONY MOVIE gut getan, nichtsdestotrotz versetzt einen der Film in eine versöhnliche Stimmung gegenüber den lieben Mitmenschen. Selbst gegenüber den lieben Mitmenschen, denen man manchmal mit ihrer Thermoskanne einen auf den Schädel geben möchte.
Marie Ketzscher