Film Restored – Das Filmerbe-Festival vom 21. bis 25. September 2022


LITTLE DIETER NEEDS TO FLY © Werner Herzog Film_Deutsche Kinemathek

„For real?!“

In der Filmtheorie werden nur wenige Themen so ausgiebig diskutiert, wie die Aspekte der dokumentarischen Form. Insbesondere Fragestellungen nach der Authentizität und den ästhetischen Gestaltungsmitteln des Filmmediums haben zu vehementen Debatten über den Wahrheitsgehalt geführt, den diese Werke für sich beanspruchen können. Unter dem Titel „For real?!“ widmet sich das Filmerbe-Festival Film Restored der Deutschen Kinemathek in seiner siebten Ausgabe vom 21. bis 25. September 2022 im Kino Arsenal der Geschichte des Dokumentarfilms. Insgesamt 16 Filmprogramme mit neuen digitalen Restaurierungen sowie zahlreiche Vorträge, Werkstattberichte und Podiumsdiskussionen setzen sich mit den ethischen, politischen, technischen und ästhetischen Ebenen des Dokumentarischen auseinander. Wie in den vergangenen zwei Pandemiejahren stehen ausgewählte Filme, Gespräche und Einführungen sowie ein Bonusprogramm ab dem 21. September über die Streaming-Seite www.film-restored.de online zur Verfügung.

Werner Herzogs LITTLE DIETER NEEDS TO FLY (1997) – der Eröffnungsfilm der diesjährigen Ausgabe – verdeutlicht bereits die Ambiguität des Realen im Dokumentarfilm. Die Geschichte des Kampfpiloten Dieter Dengler, der in den 1950er Jahren von Deutschland in die USA emigrierte und sich den US-Streitkräften im Vietnamkrieg anschloss, wird darin in Form von Reenactments erzählt. Die Schlüsselerlebnisse seines traumatischen Einsatzes, bei dem er in Laos abgeschossen und gefangen genommen wurde und schließlich aus einem Gefangenenlager im Dschungel ausbrechen und fliehen konnte, werden mithilfe von Dengler und einer Besetzung aus Laiendarstellern nachempfunden. Mit LITTLE DIETER NEEDS TO FLY verfolgt Herzog sein Konzept einer „ekstatischen Wahrheit“, die nicht immer wahrhaftig und rational erklärbar sein muss, wie der Filmemacher argumentiert: „Ich gehe also gerne ruhig an den Rand der Unwahrheit, um eine intensivere Form der Wahrheit bloßzulegen.“ (Werner Herzog im Interview mit Hans Günther Pflaum, 1978)

Ebenso stehen Dokumentationen, die von Regierungen, Institutionen oder staatsnahen Organisationen in Auftrag gegeben wurden, häufig nicht im Auftrag einer objektiven Berichterstattung. Doch auch wenn deren Produktion bestimmten pädagogischen oder propagandistischen Zwecken dienen sollte, beispielsweise um gegenwärtige Zustände oder historische Ereignisse aus einer ideologischen Perspektive darzustellen, können diese Werke insbesondere aus der historischen Distanz auch dokumentarische Eigenschaften offenbaren. Wie DAS HAUS – 1984 (1984) von Thomas Heise verdeutlicht, welcher im Auftrag der Staatlichen Filmdokumentation der DDR entstand, können solche Dokumente vergangene Lebensweisen und Gesellschaftsverhältnisse offenlegen. Da dieser Film nicht für eine öffentliche Aufführung vorgesehen war, sondern den Status Quo für die Zukunft dokumentieren sollte, konnte Heise den Alltag im Rathaus des Bezirks Berlin-Mitte am Alexanderplatz auf nahezu ungeschönte Weise festhalten.

Henning Koch

Film Restored – Das Filmerbe-Festival findet vom 21. bis 25. September 2022 im Kino Arsenal statt. Auf der Festival-Website findet ihr das komplette Programm.

Empfehlungen aus dem Programm des Film Restored Festivals 2022:

TALLY BROWN, NEW YORK (1979)

TALLY BROWN, NEW YORK © Deutsche Kinemathek

Darum geht es:
Der Regisseur Rosa von Praunheim folgt der Underground-Künstlerin Tally Brown durch das New York der späten 1970er Jahre. Dabei zeichnet er ein intimes Porträt der klassischen Opern- und Bluessängerin, wenn sie Lieder von David Bowie, Mick Jagger und Kurt Weill interpretiert und im Umfeld der Avantgarde-Ikone Andy Warhol als Star gefeiert wird. Mit von der Partie sind populäre Figuren der Transgenderszene wie Holly Woodlawn und Divine.

Was du zum Film wissen musst:
Die Lebens- und Gedankenwelt der außergewöhnlichen Protagonistin wird in einem Wechsel aus Nahaufnahmen ihrer Person und Kamerafahrten durch New York mit seinen nächtlichen Pornokinos und Imbissständen illustriert. TALLY BROWN, NEW YORK zeigt eine Metropole, in deren Straßenbild Geschäftsleute und Verlierer der Gesellschaft aufeinandertreffen und wurde nach der Premiere von der Zeitung The Village Voice als „der beste Dokumentarfilm über New York seit Chantal Akermans NEWS FROM HOME“ bezeichnet.

Termin beim 7. Film Restored
Freitag, 23.9., 18.30 Uhr, Kino Arsenal

BELARMINO (1964)

BELARMINO © Cinemateca Portuguesa – Museu do Cinema

Darum geht es:
Der ehemaligen Boxstar Belarmino Fragoso zieht durch die dicht bevölkerten Straßenzüge, Kinolobbys und Nachtklubs von Lissabon. Er trainiert für seinen ersten Kampf seit Jahren und sieht sich dabei mit der alltäglichen Einsamkeit und vergangenen Niederlagen konfrontiert. Die Kamera folgt ihm dabei auf Schritt und Tritt und zeichnet das Bild einer Stadt, die in dieser Form nicht mehr existiert, während Belarmino in Interviews über sein Leben berichtet.

Was du zum Film wissen musst:
BELARMINO – das Debüt des Filmemachers Fernando Lopes – gilt als Kultfilm des portugiesischen Cinema Novo. In einer Kombination aus Dokumentarfilm, Drama und Interview-Segmenten zeichnet er ein Porträt des ehemals erfolgreichen Boxers. Die jungen Autorenfilmer von Portugals „Neuer Welle“ versuchten, mit den Traditionen zu brechen, wodurch sie häufig mit den restriktiven Zensurbehörden des Landes in Konflikt gerieten.

Termin beim 7. Film Restored
Donnerstag, 22.9., 17 Uhr, Arsenal

THAMP̄ (1978)

THAMP̄ © Film Heritage Foundation, Mumbai

Darum geht es:
Ein Zirkus kommt in ein kleines indisches Dorf. Auf der Brache an einem Fluss wird ein großes Zelt errichtet und auf einmal bevölkern Leoparden, Akrobaten, Einradfahrerinnen und Ziegen auf einem Drahtseil den vormals ruhigen Ort und ziehen die Aufmerksamkeit der Dorfbewohner auf sich. Doch nach drei Tagen ist das große Spektakel vorbei, die Zirkustruppe bricht auf, ohne eine Spur hinterlassen zu haben.

Was du zum Film wissen musst:
Ohne Drehbuch und mit Gespür für Improvisationen und Momentaufnahmen hat der Regisseur Govindan Aravindan einen poetischen Film über die Vergänglichkeit menschlicher Beziehungen erschaffen. Ursprünglich als Dokumentarfilm geplant, vermischen sich Fakt und Fiktion im Cinéma vérité-Stil zu einer Allegorie über das wurzellose Leben.

Termin beim 7. Film Restored
Donnerstag, 22.9., 20 Uhr, Arsenal