Den Atem im Nacken spüren


THE FLOOD WON’T COME © Tremora

12. Litauisches Kino Goes Berlin vom 2. bis 6. November

Ende März wurde vor dem Festivalstart des Vilnius International Film Festival „Kino Pavasaris“ in dem kleinen Ort Karmėlava ein Pop-up-Kino gebaut, um den dort gedrehten, letztjährigen Orrizonti-Gewinner PILGRIMA zu zeigen. Der Filme hat die Verrohung von Gesellschaft zum Thema, das kollektive Wegschauen, das Trauma, das sich einfrisst. Keine zehn Tage später ging das Festival mit einer Schweigeminute und einem Aufschrei der Filmcommunity zugleich zu Ende: Mantas Kvedaravičius, Dokumentarfilmemacher von Werken wie MARIUPOLIS, war beim Versuch, Mariupol zu verlassen, im russischen Angriffskrieg getötet worden. Die Verrohung, die Gewalt waren noch ein Schritt näher gekommen, in einem Land, das durch seine sowjetische Vergangenheit ohnehin dauerhaft und eindringlicher mit dem Krieg im Nachbarland konfrontiert ist. Unausweichlich.

Das beklemmende Näherrücken der Gewalt, der Verlust der Kontrolle über Körper und/oder Gedanken dies- und jenseits des Krieges: Sie bestimmt das diesjährige, düstere Spielfilmprogramm „Festival Pearls“ des Festivals Litauisches Kino Goes Berlin in diesem Jahr. Mal wird sie als tatsächliche Kriegserfahrung erzählt, wie in Marat Sargsyans TVANO NEBUS (THE FLOOD WON’T COME), der von einem ehemaligen Militär erzählt, der nach Auslandseinsätzen und Ruhestand wieder an die Front muss, obwohl er nicht will. Mal kommt sie als Psychogram und litauische LOLA RENNT-Version wie RUNNER / BEGIKĖ von Andrius Blaževičius oder Panikattacken-Dramödie I AM FINE, THANKS / MAN VISKAS GERAI von Ernestas Jankauskas daher. Dann wieder ist die Übernahme gleich dystopischer Natur, so wie im Science-Fiction-Film VESPER von Kristina Buožytė und Bruno Samper. Doch diese fünf „Festivalperlen“ sind längst nicht alles, was das Litauisches Kino Goes Berlin zeigt: Außerdem wartet das Festival noch mit einer Jonas-Mekas-Retrospektive, einem ukrainischen Sonderprogramm sowie mehreren Kurzfilmblöcken sowie einer Multimedia-Performance auf. Veranstaltungsorte sind das Sputnik-Kino, ACUD Macht Neu sowie ACUD Kino.

In der Folge finden sich ein paar konkrete Empfehlungen aus dem Programm, zusammengestellt von Marie Ketzscher.

PILGRIMS

PILGRIMS © Afterschool Production

Darum geht es
Um Paulius, der vier Jahre nach dem langsamen, qualvollen und sinnlosen Tod seines Bruders Matas im Keller eines Dorfes die einzelnen Schritte seines Sterbens nachvollziehen und nachfühlen will. Und der von der gemeinsamen Jugendfreundin dabei Indrė begleitet wird. Eine „Pilgerfahrt“ als langsamer Enactment-Prozess, der mehr und und mehr zu eskalieren droht, je mehr die beiden das passive Publikum des Todes in ihren Verzweiflungstrauerprozess miteinbeziehen – und es mit seinem Nichtstun konfrontieren.

Was du zum Film wissen musst
PILGRIMS hat auf dem internationalen Festivalrun Lorbeeren und Preise eingeheimst und das völlig zu Recht. Klaustrophobisch und konsequent inszeniert Laurynas Bareiša die verzweifelten Bewältigungsstrategien der Trauernden, ihre hilflosen Versuche, nachvollziehen, verstehen zu wollen, wenn man schon nicht vergessen kann. Wiedergutmachung und Katharisis bleiben ihnen verwehrt, einzig die geteilte Trauer vermag ein wenig zu trösten.

Termine beim 12. Litauisches Kino Goes Berlin
2. November, 20.00 Uhr im Rahmen der Festivaleröffnung, Sputnik-Kino
3. November, 21.00 Uhr, ACUD Kino

I AM FINE THANKS

I AM FINE THANKS © DansuFilms

Darum geht es
Eigentlich hatte und hat sie alles, warum geht es ihr bloß nicht gut? Maria ist mit einem erfolgreichen Stardirigenten verheiratet, eine erfolgreiche und energische Wissenschaftlerin, die mit Mäuseexperimenten erforschen will, warum Menschen irgendwann immer übereinander herfallen. Doch die Angstzustände, wegen denen sie in der Klinik war – was sie ihrem ganzen Umfeld gegenüber als Indienurlaub kaschiert – lassen sie einfach nicht los. Immer wieder wird sie von Visionen überwältigt.

Was du zum Film wissen musst
Ein narzisstischer, psychisch gewälttätiger Ehemann, eine kaltherzige Mutter und traditionsversessene Großmutter und eine postsowjetische Gesellschaft, die es einfach nicht gutheißen will, dass eine Frau Sinn und Identität durch ihre Arbeit bezieht, anstatt Kinder zu bekommen: Es fällt schwer, zu glauben, dass Maria geschlagene anderthalb Filmstunden die Gründe für ihre Angstzustände nicht zu reflektieren vermag. Nur um sie dann innerhalb von Sekunden zu bewältigen und hinter sich zu lassen. Dieser holprige und in Teilen zu redundante Plot – wie viele Plastikenten, die einen bedrängen, kann man aushalten? – macht es manchmal schwer, die Stärken des Films zu genießen: Eine grandiose Gabija Siurbytė als getriebene, drahtige Maria, Seitenhiebe auf den Umgang mit psychischen Krankheiten in Litauen sowie durchaus lustige und satirisch treffende Momente.

Termine beim 12. Litauisches Kino Goes Berlin
4. November, 20.00 Uhr, Sputnik-Kino
5. November, 19.00 Uhr, ACUD Kino

CHERRIES

CHERRIES © M-Films

Darum geht es
Einen Vater, der den Sohn bittet, mit ihm Kirschen zu pflücken – und der ihm doch eigentlich nur nah sein und mit ihm Zeit verbringen will.

Was du zum Film wissen musst
Flirrend und zeitlos kommt Vytautas Katkus‘ CHERRIES daher, der warmherzig, lustig und subtil ein Vater-Sohn-Verhältnis in kleinen Momenten einfängt. Das beginnt schon mit der Eingangssequenz, die die beiden im Fischladen zeigt: Der Sohn soll sagen, welchen Fisch er sich wünscht – doch die Frage ist natürlich nur rhetorisch, am Ende wird es der billigste, der vom Vortag. Umständlich gemeinsam die Leiter aufstellen, Kirschen pflücken, den Fisch essen, eine Kassette mit Kinderstimmen anhören. Gar nicht nebensächlich ist das alles, sondern Inbegriff einer innigen Zuneigung, die der Vater versucht, dem Sohn unbeholfen mitzuteilen. Und das obwohl er weiß, wie weit der Sohn schon von ihm entfernt ist, ihm wortwörtlich entschwebt.

Termine beim 12. Litauisches Kino Goes Berlin
03. November, 18.00 Uhr, „Short Film Competition“ Programm 1, Sputnik-Kino 1
04. November | 21.00 Uhr, „Short Film Competition“ Programm 1, ACUD Kino 1

MORA MORA

MORA MORA © Meno avilys

Darum geht es
Die kleine Mora droht, in den über sie schwappenden Wellen eines plötzlich materialisierenden Meeres zu versinken. Aber dann schwimmt ein Klavier vorbei, auf das sie sich retten kann. Und siehe da: Plötzlich lässt sich das Wassermonster zähmen, bewältigen, man kann sogar mit ihm kuscheln.

Was du zum Film wissen musst
Jurga Šeduikytės poetisch-charmanter Animationsfilm greift für Klein und Groß das ewige Thema des Sich-Verloren-Fühlens auf – und den Möglichkeiten, ihm zu entkommen, wenn man sich an etwas festhalten kann. Vielleicht sogar an der Kunst.

Termine beim 12. Litauisches Kino Goes Berlin
03. November, 18.00 Uhr, „Short Film Competition“ Programm 1, Sputnik-Kino 1
04. November | 21.00 Uhr, „Short Film Competition“ Programm 1, ACUD Kino 1