Musik für die Augen


5 Fragen an Natalie Gravenor von Soundwatch

Das Soundwatch – Music Film Festival Berlin findet vom 8. bis 21. November an verschiedenen Spielstätten, unter anderem im Lichtblick-Kino und im Klick Kino, statt. Wir haben Natalie Gravenor, die gemeinsam mit Hans Habiger das Festival leitet und das Programm zusammenstellt, ein paar Fragen zum Auftakt gestellt.

Dieses Jahr sind neue Veranstaltungsorte dazugekommen und neue Kooperationen. Könntest du etwas auf die wichtigsten Aspekte davon eingehen? 

Das Jugenwiderstandsmuseum in der Galiläakirche in Friedrichshain ist ein ganz spannender Ort. Das Team dort verbindet Kiezverbundenheit und Kultur mit internationaler Ausstrahlungskraft. Und die Rigaer Str. als Fixpunkt der Hausbesetzerszene spielt damals wie heute eine wichtige Rolle in Berlins Alternativkultur. Wir freuen uns, hier mit der Mietprotestoper Lauratibor das Festival zu eröffnen. Im Zeiss Planetarium Kino läuft ein Film über den DDR- Synthesizer Subharchord, mit dem auch „utopische“ Filme der DEFA vertont wurden. Ansonsten kooperieren wir mit Programmkinos, Konzertorten wie das ausland, traditionellerweise das Tschechische Zentrum, diesmal mal bei der Berlin-Premiere der Dokumentaroper Kapr Code, und Kunstprojekträumen wie Zönotéka (Ausstellung und Tribute-Konzerte zu Ehren des verstorbenen, einflussreichen Singer-Songwriters und Künstlers Daniel Johnston), weil wie jedes Jahr Musik auf der Leinwand und live erfahrbar wird. Und zum sechsten Mal sind wir in dem einzigartigen Lichtblick-Kino, unserem Hauptspielort, zu Gast.

Ihr zeigt gemeinsam mit dem Italian Film Festival Berlin, das gleichzeitig wie Soundwatch stattfindet, den Dokumentarfilm von Giuseppe Tornatore über Ennio Morricone. Konkurriert ihr damit nicht gegenseitig? 

Erfreulicherweise präsentieren wir gemeinsam ENNIO, weil unsere Zielgruppen sich ergänzen: Liebhaber des italienischen Kinos und Musikinteressierte, die Morricone selbst schätzen und ihn vielleicht über die vielfältigen Spuren seines Werkes in Filmmusik und anderen Genres kennen. Bei der Vorführung am 13. November im Klick wird der Publikumspreis des Italian Film Festival Berlin verliehen. 

Mit ENNIO ist ein Film entstanden, der einem der berühmtesten Filmmusikkomponisten überhaupt gewidmet wird. Viele andere sind meist nur Kennern bekannt. Gibt es überhaupt Filme über die anderen Komponisten oder ist das zu wenig attraktiv? 

Es gibt SCORE – A FILM MUSIC DOCUMENTARY. Darin geben zeitgenössische Größen wie Rachel Portman, Hans Zimmer, Howard Shore, John Williams, Trent Reznor und Danny Elfman Einblick in ihre Arbeit und als europäisches Pendant die Serie IN THE TRACKS OF über Gabriel Yared, Alexandre Desplat, Maurice Jarre u.a. oder Filme über Zdenek Liska aus der CSSR und Oleg Karavaychuk aus der UdSSR. Und noch gute Videoessays. Es könnte mehr sein, gerade weil Filmmusik ein dankbares Filmthema ist!

Ennio Morricone in ENNIO von Giuseppe Tornatore © Soundwatch 2022

Welche Stellung nimmt ENNIO in eurem Programm? Durch welche anderen Themen wir die diesjährige Auswahl ergänzt? 

An Ennio Morricone haben sich auch so unterschiedliche Musiker wie der Avantjazzer John Zorn und ironische Postpunk Bands wie Wall of Voodoo  abgearbeitet. Deshalb war es uns besonders wichtig, diesen Film zu zeigen. Ein weiterer wichtiger europäischer Filmmusikkomponist, Mihály Vig, der seit 1985 mit Béla Tarr zusammenarbeitet und eine wichtige Figur der Budapester New Wave Szene in den 80ern war, wird in THERE WAS A TOWER – A PORTRAIT OF MIHALY VIG gewürdigt. Weitere rote Fäden des Programms sind Berlin als Raum der Alternativkulturen und des Protestes (LAURATIBOR, AUSWÄRTSSPIEL – DIE TOTEN HOSEN IN OST-BERLIN, HOLD ME. LOVE ME – IRENE MOESSINGER UND DAS TEMPODROM, SONIC REVERBS), KI und Musik (THE GARDEN OF ROBOTIC UNKRAUT, THE COMPUTER ACCENT), elektronische Musikszenen in Köln (SOUND OF COLOGNE; ENERGY – A DOCUMENTARY ABOUT DAMO SUZUKI) und Versailles, Heimatstadt von Nouvelle Vague, AIR, Phoenix u.a. (WHY VERSAILLES?). Es gibt auch Dekonstruktionen der Clubkultur (BATIDA PRESENTS THE ALMOST PERFECT DJ), neue Filme über Ska als multikulturellen Protestsound (2 TONE: THE SOUND OF COVENTRY) und New Romantics als Pioniere der Queer-Bewegung (TRAMPS!), die New York Indierock Explosion unmittelbar vor und nach 9/11 (MEET ME IN THE BATHROOM) und Klänge, die mit biochemischer Unterstützung (TRIP) oder ohne (THE SOIL) bewusstseinserweiternd sind.

Still aus THE SOUND OF COLOGNE von Kristina Schippling, Nicole Wegner © Soundwatch 2022

Welchen Mehrwert hat beispielsweise einen Film über ein Konzert oder einen Musiker im Vergleich zum reinen Musikhören? 

Idealerweise erweckt ein gut gemachter Musikdokumentarfilm Interesse an Interpreten oder Komponisten, die vorher unbekannt oder womöglich unsympathisch waren. Wir wollen nicht nur Fans der Musiker bedienen, wenngleich die Freude groß ist, mehr über Leben, Werk und auch Kontext der eigenen Favorites zu erfahren. Der Mehrwert liegt in der Information, aber auch in der audiovisuellen statt rein auditiven Erfahrung an sich.

Könnte man sagen, dass die Pandemie eine Hochzeit für Musikfilme war, weil sie zur Kompensation dienten?

Generell haben Dokus auf Streamingplattformen während der Pandemie (auch schon davor) Konjunktur erlebt. Musikfilme haben die porträtierten Interpreten in der medialen Aufmerksamkeit gehalten, als Livemusik nicht möglich war. Verschiedene Verbindungen zwischen Musik und Bewegtbild üben schon lange eine Faszination aus. Vielleicht gibt es einen Synästhesie-Trieb? Spätestens seit dem Aufkommen der Massenmedien ist die visuelle Inszenierung integraler Bestandteil von Musikerpersonas, und wenn es die bewusste Abkehr von Bildern ist. Regisseure wie D.A. Pennebaker, Penelope Spheeris u.a. machen seit den 1960ern stilprägende Musikdokus. Die gegenwärtige Blütezeit von Musikfilmen hat tiefe Wurzeln. 

Die Fragen stellte Teresa Vena.

Soundwatch findet vom 8. bis 21. November 2022 statt.