Oscarverleihung 2023 – eine Prognose, Teil #2
Drehbücher, Schauspieler & Regie
Nachdem es im Teil #1 um die technischen Kategorien und die Kurzfilme ging, dreht sich Teil #2 um die wichtigen Academy Awards für Schauspieler, Drehbücher und Regie. Wie schon in Teil #1 geht es dabei weniger um eigene Präferenzen und Vermutungen, als darum, die schon vorab getroffenen Entscheidungen bei den Vorab-Events miteinzubeziehen und richtig zu bewerten.
Zu den wichtigen so genannten Precursor Awards gehören neben den Golden Globes (Auslandspresse) und den Critics Choice Awards (CCA – Inlandspresse) die Preise der Producers Guild (PGA), der Directors Guild (DGA), der Writers Guild (WGA) und der Screen Actors Guild (SAG) sowie die BAFTAs, dem von der British Film Academy verliehenen britischen Oscar Pendant.
Drehbuch
1. Originaldrehbuch
Wird gewinnen: THE BANSHEES OF INISHERIN, Martin McDonaghs Komödie über eine scheiternde Freundschaft, die schon den Golden Globe und den BAFTA gewann, oder das Drehbuch der Daniels zur Science-Fiction-Komödie EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE, das CCA und – ganz wichtig – WGA gewann. BANSHEES galt lange als Favorit, doch die Stärke von EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE über alle Branchen der Academy hinweg ist nicht zu übersehen und könnte ihm auch diesen Oscar sichern.
Sollte gewinnen: Todd Field für sein brillantes Drehbuch zu TÁR, für das er jahrelang akribisch Recherche betrieb, was man dem präzisen Realismus seines Film ansieht.
Außerdem nominiert: Steven Spielberg und Tony Kushner für THE FABELMANS, den nostalgischen Erinnerungen an Spielbergs Jugend und Ruben Östlund für seine bitterböse Eat-The-Rich-Satire TRIANGLE OF SADNESS.
Funfact: abgesehen von Kushner sind alle Nominierten in dieser Kategorie auch die Regisseure ihrer jeweiligen Filme.
2. Adaptiertes Drehbuch
Wird gewinnen: Sarah Polley für ihr #MeToo-Drama WOMEN TALKING, das aus einer lokalen Missbrauchsgeschichte eine universelle Auseinandersetzung mit Frauenrechten und dem Umgang mit männlicher Gewalt macht. Dafür gewann Polley den USC Scripter Award, CCA und WGA. Sie ist klare Frontrunnerin in dieser Kategorie.
Sollte gewinnen: WOMEN TALKING, denn zu den Stärken dieses Drehbuchs gehört auch, allen beteiligten Figuren Raum und Stimme zu geben, ihre Geschichten zu erzählen.
Außerdem nominiert: Rian Johnsons Krimikomödie GLASS ONION: A KNIVES OUT MYSTERY, in der er wieder aufs Köstlichste die Reichen und nur vermeintlich Schönen aufeinander losgehen lässt. LIVING, ein Remake des Akira Kurosawa-Klassikers IKIRU (1952), geschrieben von Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro. Das dünne Script für TOP GUN: MAVERICK, dessen Nominierung selbst bei eingefleischten Fans des Films für Verwunderung sorgte und die leider missratenen Adaption von IM WESTEN NICHTS NEUES, für die neben vielen Weglassungen ein neues Finale geschrieben wurde, dass die pazifistische Grundidee des Romans mit hohlem Pathos ad absurdum führt. Dafür gab es aber immerhin den BAFTA und Drehbuch ist die einzige Kategorie, für die Regisseur Edward Berger den Oscar gewinnen könnte. Da die Academy den Film offensichtlich liebt (neun Nominierungen!), könnte es für WOMEN TALKING (zwei Nominierungen) hier nochmal eng werden.
Schauspieler
Jede Menge Newbies. Sechzehn der zwanzig nominierten Schauspieler sind erstmals dabei. Die fünf nominierten Hauptdarsteller sind allesamt Oscarneulinge. Das gab es zuletzt …1934. Damals gewann Clark Gable für IT HAPPEND ONE NIGHT.
1. Nebendarstellerin
Wird gewinnen: Kerry Condon als lebenskluge, aber frustrierte Frau in THE BANSHEES OF INISHERIN, die beschließt, ihren Bruder und die langweilige Heimat zu verlassen. Nach ihrem Abgang wird sie auch vom Publikum schmerzlich vermisst. Condon gewann neben vielen Kritikerpreisen auch den BAFTA. Doch nach Jamie Lee Curtis’ Auszeichnung mit dem SAG Award, ist Condons Sieg alles andere als sicher. Curtis darf als biestige Finanzbeamtin Deirdre in EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE vom Grotesken bis zum Anmutigen ihre ganze Bandbreite ausspielen. Es ist eine kuriose Performance, die aber nachhaltig in Erinnerung bleibt. Nach Laura Dern und Liza Minelli ist Curtis die dritte nominierte Schauspielerin, deren beide Eltern zuvor ebenfalls nominiert waren. Dern und Minelli gewannen den Oscar.
Sollte gewinnen: Stephanie Hsu als frustrierte Tochter und nihilistische Weltenzerstörerin Jobu Tupaki in EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE oder Hong Chau als aufopferungsvolle Krankenschwester in THE WHALE.
Außerdem nominiert: Angela Bassett als Königin Ramonda in BLACK PANTHER: WAKANDA FOREVER. Nachdem sie für ihren kraftvollen Auftritt Golden Globe und CCA gewann, sah es zunächst gut für sie aus, doch beide Preise werden von Kritikern vergeben – und die Filmindustrie hat offensichtlich andere Favoriten. Bassett ist 29 Jahre nach WHAT’S LOVE GOT TO DO WITH IT zum zweiten Mal nominiert.
2.Nebendarsteller
Wird gewinnen: Ke Huy Quan hat als liebenswert gutmütiger Familienvater Waymond in EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE fast alle wichtigen Preise im Vorfeld gewonnen: Golden Globe, CCA und SAG. Es ist ein triumphales Comeback für Quan, der vor 20 Jahren die Schauspielerei aufgab und hauptsächlich als Stunt Choreograph arbeitete. Nun ist er wieder da und Hollywood liegt ihm zu Füßen.
Sollte gewinnen: Ke Huy Quan, der nach Dr. Haing S. Ngor (THE KILLING FIELDS, 1984) als erst zweiter asiatischstämmiger Schauspieler den Oscar gewinnen wird.
Außerdem nominiert: Barry Keoghan und Brendan Gleeson in THE BANSHEES OF INISHERIN. Keoghan als Dominic ist der heimliche Star des Films, hat mit einem verunglückten Liebesgeständnis den berührendsten Auftritt und gewann dafür immerhin den BAFTA, während Gleeson als griesgrämiger Colm seinem Saufkumpan die Freundschaft aufkündigt und damit eine verhängnisvolle Entwicklung in Gang setzt. Der Afroamerikaner Brian Tyree Henry spielt in CAUSEWAY einen bärigen Automechaniker, der sich mit einer traumatisierten Kriegsveteranin anfreundet und Judd Hirsch hat als Onkel Boris in THE FABELMANS acht Minuten Zeit, allen die Show zu stehlen. Für den fast 88 Jahre alten Hirsch ist dies 42 Jahre nach ORDINARY PEOPLE die zweite Nominierung. Ein Rekord – niemand musste darauf je länger warten.
3. Hauptdarstellerin
Wird gewinnen: Cate Blanchett als gefeierte Künstlerin in TÁR. Charmant, weltgewandt und eloquent ist sie zugleich skrupelloser Machtmensch, manipuliert ihr Umfeld, geht fremd und erweist Gunst gegen Gefälligkeiten. Lydia Tár ist ein ebenso faszinierender wie abstoßender Charakter und wäre sie männlich, könnte man sich eigentlich nur Daniel Day-Lewis in dieser Rolle vorstellen. In diesem Terrain bewegen wir uns hier. Blanchetts Performance ist objektiv die beste des Jahres. Und doch hat sie mit Michelle Yeoh in EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE eine ernsthafte Konkurrentin. Yeohs am Leben verzweifelnde Waschsalonbetreiberin Evelyn ist das Herz des aussichtsreichsten Oscarkandidaten. All ihre Fehler und Unzulänglichkeiten als Ehefrau und Mutter machen sie ebenfalls zu einem hochkomplexen, wenn auch weit sympathischeren Charakter. Während Blanchett Golden Globe (Drama), CCA und BAFTA gewann, wurde Yeoh mit dem Golden Globe (Comedy or Musical) und – weitaus wichtiger – SAG ausgezeichnet. Bleibt die Frage, welche Gruppe in der Academy mehr Gewicht hat. Der britische voting block oder die Schauspieler, die immer noch die größte Gruppe unter den Academymitgliedern stellen.
Sollte gewinnen: Michelle Yeoh, die nach Merle Oberon (1936) erst die zweite asiatischstämmige Schauspielerin ist, die für diesen Oscar nominiert wurde. Sollte sie gewinnen, wäre sie nach Halle Berry (2001) erst die zweite Woman of Color, die als Hauptdarstellerin ausgezeichnet wurde. Es ist an der Zeit. Außerdem hat Cate Blanchett schon zwei Oscars und wird sicherlich noch oft nominiert werden.
Außerdem nominiert: Ana de Armas für ihre tapfere Darstellung der Marylin Monroe in BLONDE, einem Film, der nur vorgibt, Missbrauch und Ausnutzung Monroes durch das System Hollywoods anzuprangern, sich aber tatsächlich an ihrem Leid weidet und ihre Persona auf diese Weise selbst missbraucht. Michelle Williams, die in THE FABELMANS die musisch begabte Mutter des zukünftigen Starregisseurs spielt und Andrea Riseborough für TO LESLIE, einem kleinen Film über eine Lottogewinnerin, die ihr ganzes Vermögen versäuft. Riseboroughs Nominierung für einen Film, den bei einem Einspiel von 32.000 $ kaum jemand gesehen hat, ist das Ergebnis einer beispiellosen Grasswurzelkampagne.
Funfact: Sollten Yeoh, Quan und Curtis (oder Hsu) gewinnen, wäre EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE erst der dritte Film nach A STREETCAR NAMED DESIRE (1951) und NETWORK (1976) mit drei Schauspieloscars. Das gleiche gilt für THE BANSHEES OF INISHERIN, ist aber sehr viel unwahrscheinlicher.
4. Hauptdarsteller
Wird gewinnen: Austin Butler für seine umwerfende Darstellung des King of Rock’n’Roll in ELVIS, die einen eher durchwachsenen Film tatsächlich sehenswert macht oder Comeback-Kid Brendan Fraser, der in Darren Aronofskys THE WHALE einen krankhaft übergewichtigen Homosexuellen spielt. Der erst 31 Jahre alte Butler liefert in ELVIS das, was man eine Star-Making-Performance nennt. Auch wenn er zunächst Mühe hat, in der irrlichternden Inszenierung Baz Luhrmanns durchzudringen, übernimmt er nach etwa einer Stunde das Kommando und dann gehört der Film ihm. Butler hat dafür den Golden Globe (Drama) und den BAFTA gewonnen. Fraser hat auf der anderen Seite die bewegendere Erzählung. In den 1990ern ein großer Star, zog er sich nach einer sexuellen Nötigung durch den Präsidenten der HFPA im Jahr 2003 bewusst aus Hollywood zurück. THE WHALE ist seine erste große Rolle seit fast 20 Jahren. Wo immer er den Film persönlich vorstellte gab es für Fraser minutenlange Standing Ovations. Fraser gewann den CCA und den SAG Award. Butler und Fraser gehen mit jeweils zwei Precursor Awards in den Abend. Ausschlaggebend könnte jetzt die Nominierung von ELVIS als Bester Film sein. Außerdem spielt Butler einen Real-Life-Charakter. Die Academy liebt das. 74 Oscars gab es bislang für die Darstellung realer Persönlichkeiten, davon allein 30 in den letzten zwanzig Jahren. Ich sehe hier Butler mit leichten Vorteilen, aber Fraser ist ihm dicht auf den Fersen.
Sollte gewinnen: Paul Mescal als viel zu junger, mit finanziellen und mentalen Problemen kämpfender Vater in AFTERSUN, die nach meiner Meinung beste Performance unter den Nominierten. Leider ist Charlotte Wells hervorragender Film nur in dieser Kategorie nominiert, womit seine Chancen auf den Oscar bei null liegen.
Außerdem nominiert: Bill Nighy als scheinbar emotionsloser Regierungsbeamter in LIVING, der nicht mehr lange zu leben hat und nachholen will, was er glaubt, verpasst zu haben und Colin Farrell, der mit seiner Darstellung des schlichten Bauern Pádraic in THE BANSHEES OF INISHERIN das beste Jahr seiner Karriere krönt. Nach weiteren starken Auftritten in AFTER YANG und THE BATMAN galt Farrell als Topfavorit für den Oscar. Doch außer dem Golden Globe (Comedy or Musical) konnte Farrell nicht viel gewinnen. Dass ausgerechnet der BAFTA an Butler ging, statt an Farrell, spricht Bände. Wenn nicht einmal die britische Filmakademie Farrell auszeichnet, warum sollten es dann die Amerikaner tun.
Regie
Wird gewinnen: Daniels (Kwan und Kleinert) liegen hier mit EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE klar in Führung. CCA deutete es an, aber der ganz große Fisch ist DGA. Der Directors Guild Award wird seit 1949 vergeben. Seitdem ging er nur neunmal nicht an den späteren Oscargewinner. Nach Robert Wise & Jerome Robbins (WEST SIDE STORY, 1961) und Joel & Ethan Coen (NO COUNTRY FOR OLD MEN, 2007) werden Daniels als drittes Regie Duo den Oscar gewinnen.
Sollte gewinnen: Daniels für EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE. In jedem anderen Jahr aber würde ich Todd Field für seine exzellente Arbeit an TÁR auszeichnen.
Außerdem nominiert: Martin McDonagh, der für THE BANSHEES OF INISHERIN erstmals um diesen Preis konkurriert, Ruben Östlund, der für TRIANGLE OF SADNESS schon die Goldene Palme und den European Film Award gewann und Steven Spielberg, der mit einem Golden Globe für THE FABELMANS hoffnungsvoll in die finale Phase der Award Season startete, danach aber keinen wichtigen Preis mehr gewinnen konnte und für den BAFTA nicht einmal nominiert wurde. Dennoch: dies ist Spielbergs zehnte Regienominierung. Nur William Wyler (12) war häufiger im Rennen.
In Teil 3 wird es um die Königskategorie Bester Film und um die Awards für Dokumentarfilm, Animationsfilm und Internationaler Film gehen.
Thomas Heil schaut seit 1992 die Oscars – und stellt jedes Jahr seine Favoriten zusammen. Seine Lieblingsfilme haben es oft nicht auf die Liste geschafft, aber darum geht es ja auch nicht, denn Film ist Kunst und kein Wettbewerb, wie man auch über Sinn und Unsinn solcher Preisverleihungen streiten kann. Nur soviel: man sollte sie gewiss nicht zu ernst nehmen.