Oscarverleihung 2023 – eine Prognose


MY YEAR OF DICKS © Sara Gunnarsdóttir

Teil #1: Kurzfilme & Technische Awards

Am Sonntag werden in Los Angeles zum 95. Mal die Oscars verliehen. Dies ist der Versuch einer Prognose. Dabei geht es aber – SPOILER! – nicht darum, herauszufinden, welche Filme die besten sind, sondern welche Filme bei der Academy die besten Chancen haben. Dafür lohnt es sich, zu schauen, wie die Academy in den letzten Jahren entschieden hat und welche Trends und Entwicklungen sich während der Awards Season abzeichnen. Kritikerpreise können dabei hilfreich sein. Wichtiger aber ist es, auf die Precursor Awards, die Entscheidungen der einzelnen Berufsgruppen (Guilds), zu schauen.
Im 1. Teil geht es um die technischen Kategorien und die Kurzfilme.


I. DIE KURZFILME

1. Kurzer Animationsfilm

Wird gewinnen: THE BOY, THE MOLE, THE FOX AND THE HORSE – eine visuell hübsch und kindgerecht gestaltete Verfilmung eines beliebten Kinderbuches.
Sollte gewinnen: MY YEAR OF DICKS wegen seiner visuellen Variabilität oder AN OSTRICH TOLD ME THE WORLD IS FAKE AND I THINK I BELIEVE IT für den schönsten Titel und die an das Kino Michel Gondrys erinnernde weirdness.
Außerdem nominiert: die grafisch interessante Vater-Sohn-Geschichte ICE MERCHANTS und der etwas surreale THE FLYING SAILOR.

2. Kurzfilm

Wird gewinnen: die Komödie AN IRISH GOODBYE, in der zwei sehr unterschiedliche Brüder nach dem plötzlichen Tod der Mutter zusammenkommen, um deren bucketlist abzuarbeiten.

Sollte gewinnen: THE RED SUITCASE, der sich im Gewand eines Mini-Thrillers mit der Flüchtlingsthematik, aber auch mit Frauenrechten im Iran auseinandersetzt oder LE PUPILLE, in dem sich eine Gruppe von Waisenkindern wenigstens ein kleines Stück eines sagenhaften Kuchens wünscht. Außerdem nominiert: NIGHT RIDE, in dem die kleinwüchsige Ebba versucht, einer Mitfahrerin zu helfen, die von jungen Männern belästigt wird und IVALU, in dem ein kleines Mädchen ihre Schwester in den Bergen Grönlands sucht.

3. Dokumentarkurzfilm

HAULOUT © Maxim Arbugaev

Wird gewinnen: THE ELEPHANT WHISPERERS, in dem sich ein tamilisches Paar um ein verwaistes Elefantenbaby kümmert. Humanistisches Kino, verbunden mit wunderschönen Naturaufnahmen.
Sollte gewinnen: HAULOUT, der einem russischen Marine Biologen an die arktische Küste folgt, wo einmal im Jahr ca. Hunderttausend Walrösser an Land kommen, um ihre Jungen auszutragen.
Außerdem nominiert: THE MARTHA MITCHELL EFFECT über die Frau des Justizministers Richard Nixons, die sich schon sehr früh sehr öffentlich über die Machenschaften des US-Präsidenten ausließ, HOW TO MEASURE A YEAR?, für den Regisseur Jay Rosenblatt seine aufwachsende Tochter über Jahre hinweg über ihre Träume und Ängste befragte und STRANGER AT THE GATE, der von einem Kriegsveteran und White Supremacist erzählt, der ausgerechnet in einer muslimische Gemeinde Zuneigung und Anerkennung erfährt.

HAULOUT hatte auch schon Marie Ketzscher im letzten Jahr bei der Berlinale begeistert, hier könnt ihr die entsprechenden Programmtipps noch einmal nachlesen.

II. DIE TECHNISCHEN AWARDS

1. MakeUp & Frisur

Wird gewinnen: THE WHALE oder ELVIS – beide arbeiten mit prosthetischem MakeUp zur Unterstützung transformativer Darstellungen (Brendan Fraser bzw. Tom Hanks). Das sieht die Academy gerne, könnte aber auch für einen Preis für die Verwandlung Colin Farrells in den Pinguin in THE BATMAN sprechen.
Sollte gewinnen: THE WALE, denn dann können wir davon ausgehen, dass auch Fraser als Hauptdarsteller gewinnen wird.
Außerdem nominiert: IM WESTEN NICHTS NEUES und BLACK PANTHER: WAKANDA FOREVER.

2. Visuelle Effekte

Wird gewinnen: AVATAR: THE WAY OF WATER – was auch immer man von dem 2 Milliarden $ Blockbuster halten mag, seine visuelle Brillanz ist nicht zu bestreiten. Dieser Oscar ist ihm sicher.
Sollte gewinnen: AVATAR: THE WAY OF WATER hat die Grenzen des Machbaren erneut verschoben und wird zumindest tricktechnisch für einige Jahre das Maß der Dinge sein.
Außerdem nominiert: IM WESTEN NICHTS NEUES, THE BATMAN, BLACK PANTHER: WAKANDA FOREVER und TOP GUN: MAVERICK.

3. Ton

Wird gewinnen: TOP GUN: MAVERICK – für die auch akustisch beeindruckenden Luftkämpfe. Da er für Kamera nicht nominiert ist und Filmschnitt einen anderen Favoriten hat, ist dies MAVERICKs realistischste Chance auf den Oscar.
Sollte gewinnen: IM WESTEN NICHTS NEUES für das immersive Soundwork, das den Schrecken der Schlachtszenen verstärkt.
Außerdem nominiert: THE BATMAN, AVATAR: THE WAY OF WATER und ELVIS.

4. Musik

Original Song
Wird gewinnen:
das antikolonialistische Dance Battle „Naatu Naatu“ aus dem propagandistisch angehauchten indischen Action-Musical-Blockbuster RRR – ein mitreißend, schmissiger Popsong.
Sollte gewinnen: „This Is A Life“ (EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE), für den Talking Heads-Frontman David Byrne 35 Jahre nach seiner Musik zu THE LAST EMPEROR einen zweiten Oscar gewinnen könnte.
Außerdem nominiert: Lady Gaga mit ihrem schmierigen 80er-Verschnitt „Hold my Hand“ (TOP GUN: MAVERICK), Rihanna mit dem folkigen „Lift Me Up“ (BLACK PANTHER: WAKANDA FOREVER) und Diane Warren für „Applause“ (TELL IT LIKE A WOMAN).

Filmmusik
Wird gewinnen: Justin Hurwitz’ jazzig angehauchter Score für BABYLON, Damien Chazelles Epos über die frühen Tage Hollywoods.
Sollte gewinnen: der experimentelle Score der Band Son Lux für EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE oder Volker „Hauschka“ Bertelmanns minimalistische Musik für IM WESTEN NICHTS NEUES, deren zentrales Thema aus drei disparaten Tönen besteht, die zwar elektronisch klingen, tatsächlich aber auf einem hundert Jahre alten Harmonium eingespielt wurden.
Außerdem nominiert: Carter Burwell für seinen feinen, aber unauffälligen Score für THE BANSHEES OF INISHERIN und John Williams für eine halbe Stunde Klavierbegleitung zu THE FABELMANS.

5. Produktionsdesign

Wird gewinnen: gigantische Filmsets und überkandidelte Villen früher Hollywoodstars – den Precursor Awards zufolge liegt BABYLON klar in Führung. Hollywood liebt einfach die opulente Rekonstruktion seiner Vergangenheit.
Sollte gewinnen: BABYLON.
Außerdem nominiert: eine von Schützengräben durchzogene Landschaft in Flandern (IM WESTEN NICHTS NEUES), das Dorf eines Seevolkes auf einem fernen Planeten (AVATAR: THE WAY OF WATER), die riesige Bühne und die ausladende Suite im International Hotel in Las Vegas (ELVIS) oder das über und über mit Jesusbildern getäfelte Jugendzimmer der ersten Freundin des Protagonisten (THE FABELMANS).

6. Kostümdesign

Wird gewinnen: der afrofuturistische Look und die von den Maya inspirierten Kostüme des Unterwasservolkes von Talocan in BLACK PANTHER: WAKANDA FOREVER oder die zahlreichen farbenfrohen Bühnenoutfits in ELVIS.
Sollte gewinnen: EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE, in dem die Alltagskleidung der Charakterisierung der Hauptfiguren dient, während Jobu Tupakis phantasievollen Kleider ihre Stellung jenseits aller Normen unterstreicht.
Außerdem nominiert: BABYLON, für den die Mode der 1920er Jahre Pate stand und MRS. HARRIS GOES TO PARIS, der sich an den Dior-Kleidern der 1950er Jahre orientiert.

7. Kamera

Wird gewinnen: IM WESTEN NICHTS NEUES – die Academy scheint ohnehin beeindruckt von dem, was das deutsche Team mit vergleichsweise geringem Budget auf die Leinwand bringen konnte. Das wird sich hier auszahlen.
Sollte gewinnen: Florian Hoffmeisters kühle Kompositionen für TÁR oder Darius Kondjis phantasmagorische Motive für Alejandro G. Iñárritus egomane Nabelschau BARDO, FALSE CHRONICLE OF A HANDFUL OF TRUTHS. Oder lieber doch Mandy Walker, die für die berauschenden Bilder in ELVIS als erste Frau diesen Oscar gewinnen könnte.
Außerdem nominiert: Roger Deakins für die Opulenz von EMPIRE OF LIGHT.

8. Filmschnitt

Wird gewinnen: die alle Fäden zusammenführende, keinen Nebenaspekt vernachlässigende und die Handlung zu einem orgiastischem Stakkato steigernde Montage in EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE. Dass dieser Film in dieser Form funktioniert, hat mit einem enormen Maß an Kontrolle über das Bildmaterial zu tun und ist ohne Frage absolut preiswürdig.
Sollte gewinnen: EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE.
Außerdem nominiert: die rasanten Flugmanöver in TOP GUN: MAVERICK, die virtuos verzahnten Konzerte in ELVIS, der disparate Kontrollverlust in TÁR und der sich allmählich steigernde Konflikt in THE BANSHEES OF INISHERIN.

In Teil 2 wird es um die Awards für Schauspieler, Drehbücher und Regie gehen.

Thomas Heil schaut seit 1992 die Oscars – und stellt jedes Jahr seine Favoriten zusammen. Seine Lieblingsfilme haben es oft nicht auf die Liste geschafft, aber darum geht es ja auch nicht, denn Film ist Kunst und kein Wettbewerb, wie man auch über Sinn und Unsinn solcher Preisverleihungen streiten kann. Nur soviel: man sollte sie gewiss nicht zu ernst nehmen.