Recap vom 35. Filmfest Dresden


THE DEBUTANTE © Elizabeth Hobbs, Animate Projects

Es gibt sie so selten, dass dieser Text mit ihnen losgehen muss: Gute Filmfestivaleröffnungen. Langatmig, einschläfernd und allerhöchstens unfreiwillig komisch – so sind sie ja eigentlich nämlich meistens. Nicht so die Eröffnung des 35. Filmfest Dresden, das in diesem Jahr vom 18. bis 23. April über die dortigen Kinoleinwände flackerte. Da gab es erfrischend kurze Reden, Disco-Hits als Entrance-Musik für die Teammitglieder, wunderbare random Fakten zur Filmprogrammauswahl (mehr Hunde als im Vorjahr!) und, das ist am wichtigsten: cineastische Appetiser. Schön über die Veranstaltung verteilt wurden nämlich Filmbeiträge gezeigt, die unglaublich viel Lust machten auf die darauf folgenden Tage.

Der Internationale Wettbewerb präsentierte sich so zum Beispiel schon eingangs verspielt-bissig mit Elizabeth Hobbs Animationsfilm DEBUTANTE, auf der gleichnamigen Kurzgeschichte Leonara Carringtons aus dem Jahr 1939 beruhend, der das englische Klassensystem süffisant persifliert. Hobbs setzt den rigiden Verhaltensregeln einen anarchisch-wilden Animationsstil entgegen (sie kombiniert Tintenzeichnungen mit Collage und Malerei), und dem Prototyp des Upper Class Girls eine amüsante Hyäne, die gern hübsche Gesichter als Make-up aufträgt. Technisch ebenso versiert und etabliert: Priit Tender, der mit seinem Stop-Motion-Film KOERKORTER (DOG APARTMENT nach einem Gedicht von Andres Ehin) eine Endzeitkapitalismus-Parabel vorlegte, die an Detailtreue und trostloser Hamsterradstimmung nichts zu wünschen übrig ließ (siehe auch https://ray-magazin.at/kraft-der-einzelbilder/). Als großen Gewinner prämierte die Jury am Ende übrigens einen Animationsfilm, der nicht unbedingt durch technische Ausgeklügeltheit, wohl aber durch einen wahnsinnigen Ideenreichtum besticht: IT’S RAINING FROGS OUTSIDE (AMPANGABAGAT NIN TALAKBA HA LIKOL): Das Kurzfilmdebüt der Philippinin Maria Estela Paiso ist ein mutiger Mixed-Media-Film mit verschiedenen politischen Subtexten, der Animation zum Teil schön irritierend, verstörend einsetzt. Die Einsamkeit des Singles im Lockdown lässt sich hier ebenso wiederfinden wie die Entfremdung von der Heimat, individuell wie systemisch. Ein Covid-Nachklapp, wie man ihn sich fast öfter wünschen würde.

Filmfest Dresden Trailer 2016 © FFDD23

Auch für die Spezialprogramme – die ja schon im regulären Festivalbetrieb oft drohen, unterzugehen, weil die Leute viel in die Wettbewerbe rennen – wurden filmische Häppchen gezeigt, darunter der herrliche Foto-Polaroid-Film TRANSFORMATION BY HOLDING TIME (ARTIST WITH MUSE) von Paul und Menno de Nooijer, oder auch 让-马克·瓦雷 (JEAN-MARC VALLÉE), der den regionalen Schwerpunkt Québec anteaserte.

Paul und Menno de Nooijer sind enge Wegbegleiter des Festivals, haben auch 2016 den Trailer angefertigt. Das Filmfest Dresden widmete Vater und Sohn, die nun nach fast 50 gemeinsamen Karrierejahren aufhören, ein Jubiläumsprogramm. Ihre Pixilation-Werke – in denen sie fast immer auch die Protagonisten geben – spielen humorvoll mit den Schnittstellen von Foto und Film, gesellschaftlichen sowie medialen Konventionen, und thematisieren auch immer Zeit als subjektives Konstrukt. In TRANSFORMATION BY HOLDING TIME wird das ganz deutlich, als die Muse für den Fotografen posiert, aber erst in der Zusammensetzung der vor den Augen der Zuschauer*innen geknipsten Polaroids eine überlebensgroße Fotomontage ihrer selbst entsteht. Auch die überraschend sinnliche Auftragsproduktion für das Zeeuws Museum Middleburg, STRIP SHOW 1850, in der ein Pärchen die schier endlosen Schichten ihrer historischen Kostüme ablegt, ließ sich doppelt interpretieren: Als Dokument zum Teil lächerlich wirkender Modetrends, aber auch als Evidenz ihrer durchaus erotischen Konnotationen.

U BIG BANG À MARDI MATIN © Claude Cloutier, NFB Canada

Der Animationsfilm 让-马克·瓦雷 (JEAN-MARC VALLÉE) von Annie St-Pierre verwies bereits auf die filmische Vielfalt des Regionalfokus auf Québec, als pointenreiche Komödie, die sich über Arthouse-Cineast*innen sehr liebevoll zu amüsieren weiß. Und apropos Unterhaltung: U BIG BANG À MARDI MATIN (FROM THE BIG BANG TO TUESDAY MORNING) von Claude Cloutier machte seinem Titel alle Ehre: Eine animalisch-animierte Transformationsreise vom Urknall über Dinosaurier und Täubchen in die Tristesse des urbanen Alltag eines Durchschnittsmenschen, Meteoritenflug inklusive. Ein Film, der die richtige Frage stellt „Und dafür also diese ganze mühevolle Evolution?“. Als Knet-Animation realisiert und klasse: L’ENFANT AUX SIX HOT-DOGS (THE CHILD WITH 6 HOT-DOGS) von Joël Vaudreuil, absichtlich unförmig, schräg und unperfekt inszeniert: Ein Junge bestellt sechs Hot Dogs für sich und seine Oma und beobachtet dabei das seltsame Personal plus die Kundschaft. Ein ungefiltertes Panorama erbärmlichen Erwachsenwerdens, das gut mitleiden lässt. Mit TREES OF SYNTAX, LEAVES OF AXIS von Daïchi Saïto, VILLE MARIE – A von Alexandre Larose oder dem Musikvideo DOMINO von Jonathan Robert waren außerdem interessante experimentelle Arbeiten aus Québec zu bewundern, die mittels Wiederholung und Verfremdung respektive Naturwahrnehmung, Alpträume und Arbeit vs./& Mental Health thematisierten.

Im Deutschen Wettbewerb gezeigt – und als Vorgeschmack dafür bei der Eröffnung ausgewählt – aber auch passend zum Fokus auf einem iranischen Sonderprogramm auf Widerstandsbewegungen im Iran und Exil, das von der fantastischen Filmemacherin Maryam Tafakory kuratiert wurde: Martin Pflanzers MAHSA, einer animierten Hommage an die durch das iranische Regime ermordete Mahsa Jina Amin und die WOMAN-LIFE-FREEDOM-Bewegung. Emotional vor allem durch das etwas pathetische Gedicht Ayeda Alavies aufgeladen, erzählt der Film vom Widerstand und Befreiungskampf. Als solidarische Geste überzeugend, in seinem Wollen aktuell zu sein jedoch seltsam nachträglich anmutend – ist doch die Bewegung inzwischen leider kaum mehr medial präsent. Eine Schlagzeile erschlägt eben die nächste.

MEN OF MY DREAMS © Gelare Khoshgozaran

Im Kontrast dazu versammelte Tafakorys EXIT HAPPYLAND – FROM ANYWHERE zahlreiche experimentelle Filmpositionen von weiblichen iranischen Filmemacherinnen, die vielleicht auch mit ihrem Fokus auf ein generelles Stimmungsbild und persönliches Narrativ überzeugender schienen. Es waren Beiträge dabei, die schon bei vielen Festivals gezeigt worden sind, darunter Tara Najd Ahmadis YEK HAEFTEH BA AZAR (A WEEK WITH AZAR), einem an die Freundin Azar gerichteten Filmbriefessay, das beschreibt, wie man auch im Exil weiter zerrieben wird, zum Beispiel durch Visa-Beschränkungen in den USA. Dass die beiden Freundinnen mit einem riesigen, schön naiven Pappmachékopf ein Kunstobjekt bauen, das mit seinen großen Augen endlich alle großen Zusammenhänge und Systemperversionen begreift – und das schließlich verbrannt wird – bleibt beispielsweise eine sehr starke Message.

Analog zu Tafakorys eigenen Projekten arbeiten viele der Filme als Montagen historischer Spielfilm- oder Dokumentaraufnahmen so wie der Azadeh Navais GLADIOLUS oder Niyaz Sagharis KOOCHEH ZOGHALI (THE CHARCOAL ALLEY). Am poetischsten und traumverwobensten ist sicherlich Gelare Khoshgozarans MEN OF MY DREAMS, der von den Alpträumen erzählt, die kein Exil dieser Welt zum Verschwinden bringen kann, auch nicht LA: In Albtraum-Kapitel untergliedert, verwebt MEN OF MY DREAMS Fakt und Fiktion, zeigt zum Teil mysteriös wirkende Szenen, in denen die Protagonistin ständig fremde Personen verkörpert/verkörpern muss, indem sie immer wieder andere Masken aufzieht (Edward Said ist erkennbar, aber andere Referenzen erschließen sich westlichen Zuschauer*innen nicht immer; tut dem Film aber keinen Abbruch). Im Vergleich zum Animationsfilm MAHSA wirkten viele Beiträge in Maryam Tafakorys Kuration wesentlich kryptischer und subtiler, aber auch unsäglich schmerzlicher – angesichts der in den Filmen ständig thematisierten Brüche, enttäuschten Hoffnungen, realen Tränen, Verluste. Damit lieferte sie ein wichtiges Programm, das es wert wäre, noch bei einigen anderen Festivals gezeigt zu werden.

Marie Ketzscher