„Ein Friedhof ist auch ein Ort der Liebe und Intimität“ – Interview mit Raphael Schanz, Regisseur von ALLEINGANG


Raphael Schanz © Raphael Schanz

Allein gehen

Bernd Simon ist Urnenbegleiter, Trauerbegleiter und irgendwie auch Schauspieler auf der Bühne seines Arbeitsorts, dem Alten Domfriedhof St. Hedwig in Berlin-Mitte. Im 45-Minuten-Takt versucht der Protagonist des Dokumentarfilms ALLEINGANG mittellosen Verstorbenen ohne ermittelbare Angehörige einen würdevollen Abschied während der sogenannten ordnungsbehördlichen Bestattungen zu schenken – bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit. Der Regisseur Raphael Schanz im Gespräch über ALLEINGANG und warum Tod und Leben enger zusammenhängen als man oft denkt.

In deinem Dokumentarfilm geht es um die Themen Tod, Bestattung und Einsamkeit. Welches persönliche Interesse hat dir Lust auf diese schwere Themen gemacht?
Raphael Schanz: Mein Interesse an diesem Sujet hat mit einer Bekannten angefangen, die ein Praktikum bei einem Bestattungsinstitut gemacht hat. Sie meinte, dass sie sich dem Leben im Angesicht des Todes näher fühlt. Ihre Erkenntnis hat mich sehr beeindruckt. Ich habe festgestellt, dass ich mich noch nie richtig mit dem Thema Tod und Trauer auseinandergesetzt habe. Es sind zwar Personen in meiner Familie gestorben, aber das hat mich nie dazu veranlasst, mich intensiver mit der gesellschaftlichen Dimension des Sterbens auseinanderzusetzen. Während meiner Recherche bin ich neugierig geworden auf die ordnungsbehördlichen Bestattungen, von denen ich vorher nichts wusste.

Allgemein habe ich mich zudem gefragt, warum der Tod ein großes Tabu-Thema in unserer Gesellschaft ist. Warum viele Personen in Gesprächen Themen rund ums Sterben ausklammern oder schnell zum nächsten Thema springen. Mit meinem Dokumentarfilm ALLEINGANG wollte ich deshalb die Unsichtbarkeit des Sterbens sichtbar machen.

Wie hast du den Protagonisten und Urnenbegleiter Bernd Simon, einen ehemaligen Imbissverkäufer und Kneipenwirt, gefunden?
RS: Im Jahr 2019 haben die ersten Berliner Bezirke angefangen, staatliche Gedenkfeiern zu organisieren für die sogenannten ‚einsam Verstorbenen‘, ein schwieriger Begriff, wie ich finde. In der Zeitung habe ich gelesen, dass der Amtsarzt Patrick Larscheid aus dem Berliner Bezirk Reinickendorf diese initiierte. Dann habe ich herausgefunden, dass fast alle Bestattungen auf dem Alten Domfriedhof St. Hedwig in Berlin-Mitte stattfinden.

Wenn man den Friedhof betritt, sieht man Bernd Simon mit seiner Mütze und seinem Sakko, der alle Gäste begrüßt vor zwei steinernen Engelfiguren. Er ist der erste Kontakt für alle Menschen, die auf dem Friedhof ankommen. Als ich Bernd Simon das erste Mal traf, war ich noch in der freien Recherche für meinen Dokumentarfilm. Aber ich wusste ziemlich schnell, dass ich ihn super spannend und facettenreich als Person finde, weil er eine zentrale Rolle als letzter Wegbegleiter für jährlich mehr als 2500 Personen ­ – wie in den letzten Jahren – hat, die ordnungsbehördlich bestattet werden.

Wieso ist der Begriff ‚einsam Verstorbene*r‘ schwierig für dich?
RS: Die ordnungsbehördlichen Bestattungen greifen, wenn keine bestattungspflichtigen Angehörigen gefunden werden, also von den Ämtern in einer sehr kurzen Zeitspanne nicht ermittelbar sind. Der Begriff ist schwierig, weil man den Status pauschal nicht so kategorisieren kann. Manchmal haben die Verstorbenen doch noch Angehörige, die erst nach der Bestattung vom Todesfall erfahren. Oder es gibt Freund*innen oder Nachbar*innen, die die verstorbene Person begleitet haben, aber vor dem Gesetz nicht bestattungspflichtig sind. Nur weil jemand nicht im engen Kontakt mit der Kernfamilie verstorben ist, heißt es ja nicht, dass die Person einsam verstorben ist.

Mich hat besonders der Drahtseilakt von Bernd Simon in deinem Dokumentarfilm beeindruckt, der nicht nur rein formal Urnenbegleiter ist, sondern auch Trauerbegleiter, indem er versucht, die Hinterbliebenen mit den richtigen Worten aufzufangen. Was hat dich daran so interessiert?
RS: Bernd Simon geht in den allermeisten ordnungsbehördlichen Bestattungen allein. Aber die spannenden Momenten sind natürlich die, in denen zwischenmenschliche Begegnungen stattfinden. Das ist die größte Herausforderung für ihn, sich immer wieder neu auf die verschiedenen Personen einzustellen, sagt er immer.

Bei den Bestattungen stehen zudem die Zeit und Dauer fest. Im 45-Minuten-Takt finden sie statt. Aber es ist nie vorher klar, ob jemand kommt und wer kommt. Dann stellt Bernd Simon die Urne für zehn Minuten in die Kapelle und wartet auf potentielle Zugehörige. Der ganze Film ist, so wie ich ihn sehe, ein Wechselspiel zwischen Banalität und Bedeutung, was durch Bernd Simon verkörpert wird. Er vereint das Alltägliche wie das Plaudern über das Wetter mit dem Zeremoniellen.

ALLEINGANG ist dein Abschlussfilm im Fach Dokumentarfilmregie an der Filmuniversität filmArche. Wie hat dir deine Zeit an der filmArche bei der Produktion geholfen?
RS: Ich wusste, dass ich Dokumentarfilme machen will, aber ich habe mich mit diesem Wunsch alleine gefühlt. Ich brauchte Menschen, mit denen ich mich austauschen und über meine Ideen reden kann. Ohne die filmArche wäre ich vielleicht nicht am Filmemachen drangeblieben. Die filmArche hat mir Struktur und Motivation gegeben.

Dein Film ALLEINGANG ist still und beobachtend gefilmt mit ein paar einzelnen langsamen Kameraschwenks. Wieso hast du den Dokumentarfilm als Regisseur filmisch so umgesetzt?
RS: Für mich ist es ein Film über eine Person, die versucht, eine Rolle auszufüllen. Bernd Simon versucht auf seine ganz eigene und oft intuitive Art, Verstorbene und die jeweiligen Zugehörigen im intimen Moment der Bestattung zu begleiten. Die multiplen Rollen, die Bernd Simon auszufüllen versucht, waren für mich der interessanteste Aspekt des Dokumentarfilms. Sie funktionieren als eine Art Schauspiel auf der realen Bühne des Alten Domfriedhofs St. Hedwig. Stilistisch sollte der Film deshalb bühnenartig, ruhig und tableauartig sein.

5 bis 10 Prozent aller Berliner Verstorbenen werden ordnungsbehördlich bestattet, d.h. sie haben keine Angehörigen oder diese sind nicht ermittelbar – mehr als in jeder anderen deutschen Stadt. Was sagen diese Zahlen über Großstädte wie Berlin aus?

RS: Berlin ist eine Stadt, in der es sehr viel Anonymität und sehr viele Single-Haushalte gibt. In der Großstadt kann man viel mehr und einfacher Verschwinden im Vergleich zu ländlichen Gegenden. Man kann in der Großstadt leben, ohne wahrgenommen oder gesehen zu werden. Diese Tatsache zieht sehr viele Personen an, die hier herkommen.

Was hast du Positives während der Dreharbeiten über den Tod und Trauer gelernt?
RS: Mein Team und ich waren acht Tage auf dem Friedhof. Ursprünglich dachte ich, dass der Ort ein schwerer sei. Letztendlich war ich dann sehr überrascht und befreit, weil ich gemerkt habe, dass ein Friedhof auch voller Lebendigkeit ist, da dort Dinge in Bewegung geraten. Verfeindete Familienmitglieder versöhnen sich etwa wieder oder Personen finden einen Abschluss, von einem Kapitel ihres Lebens, das voller Unruhe war. Und ein Friedhof ist auch ein Ort der Liebe und Intimität, weil Zugehörige an den Ort kommen, um dem*der Verstrobene*n nahe zu sein. Die Auseinandersetzung mit dem Tod hat neben allem Schmerz und Leid eine totale Stärke, weil es um das Leben selbst geht und weil man sich so nah dran fühlt am Leben. Die Alltagssorgen treten oft in den Hintergrund. Der Stress im Beruf ist etwa kurz nicht mehr so wichtig.

Die Kurzdokumentation ALLEINGANG lief im Rahmen des 1. Arche-Filmfestivals (5.-9.7.2023) zum 20.-jährigen Jubiläum im Wettbewerb im Block Indigo am Donnerstag, den 06.07. im Il Kino. um 21:00 Uhr.

Eine Open Air Vorführung ist am 31. August auf dem Alten Domfriedhof St. Hedwig geplant.

Das Interview führte Wenke Bruchmüller