65. Nordische Filmtage: Hommage an Roy Andersson


Ehrenpreisverleihung Nordische Filmtage © Marie Ketzscher
Ehrenpreisverleihung Nordische Filmtage © Marie Ketzscher

Oh du wunderbare Unzulänglichkeit

Es gibt Menschen, einschließlich dieser Autorin, die in Gesprächen über Filme-machende Anders(s)ons sagen: Es gibt eh nur den einen, den richtigen. Denn Achtung, Polemik: Der andere nutzt sein ausgeklügeltes, pastelliges Set Design, um ein immer größer werdendes Staraufgebot in unterhaltsam-universellen Nicht-Stories zu präsentieren, der eine verwendet Stilmittel wie Trompe-l’œil-Set-Designs (= die Illusion, in der Zweidimensionalität Dreidimensionalität entstehen zu lassen), statische Kamerabilder sowie weiße Gesichtsübermalungen hingegen, um die ganze herrlich-tragische Unzulänglichkeit des Menschseins abzubilden. Insofern war es vermutlich für viele Besucher*innen ein großes, unsagbares Glück, dass die 65. Nordischen Filmtage ihre Hommage dem „richtigen“ Anders(s)on, nämlich Roy Andersson, widmeten. Und ihn in Abwesenheit mit dem Ehrenpreis des Festivals auszeichneten.

Im BFF-Team gehen die Meinungen zu Roy Andersson auseinander: Wenke Bruchmüller war wenig angetan von ÜBER DIE UNENDLICHKEIT, Henning Koch war von EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH hingegen überzeugt.

Gezeigt wurden neben seiner Trilogie aus SONGS FROM THE SECOND FLOOR (2000), DAS JÜNGSTE GEWITTER (2017), EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH (2014) sowie dem vierten Trilogie-Add-on ÜBER DIE UNENDLICHKEIT (2019) auch seine Werbefilme und studentische Arbeiten. Aber es waren auch zwei Dokumentarfilme im Programm, die sich nicht nur die Produktionsprozesse im Studio 24, sondern auch Anderssons persönliche Dämonen unter die Lupe nahmen. Fred Scott begleitete zum Beispiel für BEING A HUMAN PERSON (2020) die Dreharbeiten zu Anderssons vermutlich letztem Film, ÜBER DIE UNENDLICHKEIT, und beleuchtet Produktionsprozesse, aber er blendet auch dessen Alkoholismus nicht aus, ja, er macht ihn sogar zum eigentlichen Thema des Films. Wir sehen Andersson, wie er heimlich hinter der Tür einen Schluck aus einem Flachmann nimmt, wir bekommen mit, wie die Produktion von ÜBER DIE UNENDLICHKEIT stagniert, weil Andersson zwischenzeitlich nicht mehr in der Lage ist, Regie zu führen. Und wir sehen sogar, wie das Filmteam ganz offen Sorgen, Frustration und auch Wut artikuliert. Damit gelingt BEING A HUMAN PERSON etwas unglaublich Wertvolles und Seltenes: Er wird zu einer Hommage, die unsagbar weit von einer Heldenverehrung weg ist, aber trotzdem einen Kniefall vor dem Werk des Großmeisters hinlegt. Chapeau.

ÜBER DIE UNENDLICHKEIT © Neue Visionen Filmverleih
ÜBER DIE UNENDLICHKEIT © Neue Visionen Filmverleih

Dass Andersson nicht nur begeistert, sondern inspiriert, bisweilen bis in die Imitation hinein, zeigte Carl Olsson mit seinem VINTERSAGA. Olsson, der stellvertretend den Ehrenpreis für Andersson entgegen nahm, nutzte das episodische Erzählen („kleine Dramulette“, wie es Anke Leweke so treffend beschrieb), um Andersson in das Jetzt und Hier zu überführen. Hier fahren die gelangweilten jungen Männer nicht nur mit tiefergelegten Autos, es gibt auch zwei PoC-Jugendliche die bei Bic Macs Alltagsweisheiten austauschen sowie eine sinnlos lange explizite Sexszene. Aber VINTERSAGA wirkt ein bisschen, als hätte Olsson Andersson missverstanden: Wiederholung, Statik und auch bisweilen unbewegte Mimik sind im Anderssonschen Universum keine Werkzeuge, um sich über den Zustand der Welt und die Menschen lustig zu machen, sondern zu zeigen, aus wievielen alltäglichen absurden Handlungen und Missverständnissen das Leben an sich besteht. Und das geschieht bei aller Süffisanz mit viel Respekt. VINTERSAGA gibt seine Charaktere hingegen der Lächerlichkeit preis.

Dass der Kniefall vor Andersson immer und immer seine Berechtigung hat, macht auch das wiederholte Schauen von Anderssons Filmen deutlich. Man nehme das JÜNGSTE GEWITTER von 2007. Und die fantastische Tuba-Szene, in der Anderssons dead-pan-faces ihre so besondere Komik entfalten. Wir sehen einen Mann, der Tuba spielt, dann kommt seine genervte Frau ins Zimmer und schreit einmal lang, bevor sie rausgeht und die Tür zuschlägt. Der unter ihnen wohnende Nachbar klopft mit dem Besenstiel entnervt an die Decke, bis der Kronleuchter hinunterfällt. Dann die Draufsicht: Ein weiterer rauchender Nachbar beobachtet beide Szenen rauchend vom Balkon. Auf die löchernden Fragen seiner Frau, was er tue und ob er beim Rauchen und Rumstehen an sie gedacht habe, antwortet er nüchtern: „Nein, vermutlich nicht“ – worauf sie plötzlich die Rollen wechselt und im-Wortlaut-bleibend weinerlich ruft „Nie denkst du an mich!“. Geht es viel schöner und prägnanter? Es ist kaum vorstellbar.