Ich versteck mich vor dir, Welt: Festivalbericht von den 65. Nordischen Filmtagen


LYNX MAN © Alexander Lembke
LYNX MAN © Alexander Lembke

„Schau, wie selbstsicher er läuft. Er ist so ein prachtvolles Exemplar“, flüstert Hannu, und die Stimme des etwas finster ausschauenden, bärtigen Finnen wird ganz weich. Ach, wenn nur nicht dieses lästige Menschsein ihn separieren würde von seinen Lieblingswesen auf der ganzen, großen Welt! Bei Juha Suonpääs LYNX MAN hanedelt es sich um einen ungewöhnlichen und bisweilen auch unangenehm berührenden Dokumentarfilm, der da parallel mit den letzten Minuten des Eröffnungsfilms der 65. Nordischen Filmtage, TOGETHER 99 von Lukas Moodysson, anfängt, über die Leinwand zu flimmern. Schließlich sucht Hannu nicht nur Luchsnähe durch die Kameras, die er liebevoll mit ausgerupften Hühnerfedern und Blut beschmiert, sondern lockt die Tiere auch bisweilen (mit Hasen-Opfergaben zum Beispiel) und lässt so doch verborgene Domestizierungswünsche erkennbar werden.

Es ist die große Stärke und vielleicht auch ein bisschen eine Schwäche von LYNX MAN, dass er diese außergewöhnliche Luchs-Leidenschaft so völlig kontextfrei präsentiert. Denn wir erfahren nichts über den Eigenbrötler, alles konzentriert sich auf die Wildkamera-Aufnahmen. Die Kameras zeichnen dabei nicht nur die Luchse auf, sondern auch Elche, Hasen, verschiedene Vogelarten und Hannu selbst, zum Beispiel wenn er an bestimmte Stellen uriniert, um mit den Luchsen zu kommunizieren. Ist das nun skurril, vielleicht sogar finnisch-skurril? In jedem Fall prägt LYNX MAN mit seinem großen Fremdheits-/Einsamkeitsthema – das ja auch gleichzeitig immer Gemeinschaft mitverhandelt – den cineastischen Blick auf das Lübecker Filmfestival, das in diesem Jahr vom 1. bis 5. November ein ungemein starkes Programm aufgefahren hatte.

Einsamkeitsgefühle, Zweisamkeitsbedürfnisse

REVIR - EVERYTHING YOU HOLD DEAR © Jacob Sofussen
REVIR – EVERYTHING YOU HOLD DEAR © Jacob Sofussen

Denn auch Susie fühlt sich den Tieren näher als den Menschen. Das äußert sich aber nicht zeitgemäß als Insta- oder PETA-Aktivismus; und die Tierliebe trägt auch nicht das Gewand eines veganen Lifestyles. Stattdessen äußert sich Susies Tierliebe auf eine Weise, in der Tod und Leben, oder in PETA-Sprache: Mord und Speziesismus Hand in Hand gehen: Sie arbeitet als Tierpräparatorin, ist noch dazu Jägerin und besitzt Jagdhunde, die sie knuddelt, als gäbe es kein Morgen. Das allein wäre schon Thema genug, aber der Dokfilm REVIR – EVERYTHING YOU HOLD DEAR von Peter Hammer widmet sich nicht nur ihr, sondern auch ihrem Verhältnis zu ihrem Bruder Sune, mit dem sie auf dem dänischen Land lebt. Sune, der eigentlich von Liebesbeziehung und Familiengründung träumt, stellt seine Bedürfnisse zurück, um Susie, die eher autistisch veranlagt ist, in ihrer Selbstständigkeit zu unterstützen. Als Susie zu einer Präparatorenmesse eingeladen ist, und sich die Mutter ankündigt, rührt das an das geschwisterliche Kindheitstraumata: Durch den mütterlichen Alkoholismus waren die Kinder früh auf sich gestellt. REVIR nutzt unter anderem Dioramen, um das Co-Abhängigkeitsverhältnis einzufangen: Hier sitzen nicht nur die ausgestopften Tiere in der Landschaft, sondern auch mal die Geschwister. Das ist alles schmerzlich, und doch anrührend, sehr transparent, aber nicht voyeuristisch.

LYNX MAN und REVIR zeigten Lebensentwürfe, die sich konträr zu vielen in Spielfilmen gezeigten Anordnungen des Zusammenseins verhielten: So knüpfte TOGETHER 99 beispielsweise an die Grundidee seines Vorgängerfilms an und fragte: Was bleibt von einer Kommune, 20 Jahre später? Was passiert mit den ganzen schönen hehren Idealen von Gleichheit, Emanzipation, Brüderlichkeit? Das sind keine uninteressanten Fragen, allerdings hat Moodysson TOGETHER 99 als zerfaserte Pointenansammlung ohne dramaturgisch interessanten Spannungsbogen inszeniert; er bleibt ein austauschbarer Reunion-Film ohne Nachhall, der leider allzu oft Klischees bedient. Ganz anders der Gewinnerfilm MUMMOLA von Tia Kouvo über eine weihnachtliche Familienzusammenkunft, in der die Risse im Zusammenhalt immer spürbarer werden, als der Alkoholismus des schon-lange-nicht-mehr-ernst-zu-nehmenden Familienüberhaupts langsam, aber sicher seine ganze Sprengkraft entfaltet. MUMMOLA ist in seinen besten Momenten unglaublich lustig und tieftraurig zugleich; und zeigt, wie Alkoholismus ganze Familien zerrütten kann.

Familie, da war doch was

PARADISE IS BURNING © HOBAB
PARADISE IS BURNING © HOBAB

Was von einer Familie übrig bleibt, wenn sich die Eltern verdrücken – das ist das Thema von Mika Gustafsons PARADISE IS BURNING. Das energiegeladene Coming-of-Age-Movie folgt der 16-jährigen Laura und ihren zwei kleinen Schwestern Mira (12) und Steffi (7), die versuchen, vor dem Jugendamt zu verbergen, dass ihre Mutter wieder einmal abgehauen ist und sie auf sich gestellt zurück gelassen hat. Laura gibt den Ton an, versucht ein bisschen Struktur in den Alltag zu bringen, auch wenn sie längst nicht mehr zur Schule gehen. Sie klauen mit einfallsreichen Manövern im Supermarkt, steigen mit anderen Mädels in fremde Häuser ein und chillen an Pools. Es ist vor allem Eskapismus, der die drei durch den Alltag bringt, Hoffnung und Zuversicht stiftet. Die Dynamik zwischen den Schwestern verändert sich allerdings, als Laura Hannah (Ida Engvoll) kennenlernt, die deutschen Netflix-Gucker*innen aus LOVE AND ANARCHY bekannt sein dürfte. Hier „lernt“ die Ältere von der Jüngeren die Geheimnisse des „Einbruch-Wohnens“: Gemeinsam steigen sie in fremde Wohnungen ein, rauchen das Gras der abwesenden Paare, fläzen auf den Sofas. Es entsteht Freundschaft, vielleicht auch ein bisschen mehr als das – auch wenn die Zuschauer*innen schnell begreifen, dass Hannah für Laura auch zum Teil ein Mama-Ersatz ist. Ein ebenso wenig verlässlicher. Denn auch Hannah flieht aus ihrem Leben, will die Verantwortung des Mutter- und Ehefrau-Seins nicht annehmen. PARADISE IS BURNING wurde völlig zurecht mit dem Preis der Jugendjury sowie dem Kirchlichen Filmpreises INTERFILM für seinen ungeschönten, aber dennoch liebevollen Blick auf das Erwachsen-Werden im Prekariat und seine unglaublich starken schauspielerischen Leistungen (allen voran Bianca Delbravo als Laura) ausgezeichnet.

Schwärmerei, völlig subjektiv: Marie Ketzscher war von der Hommage an Roy Andersson bei den 65. Nordischen Filmtagen mehr als begeistert.

Die in vielen nordischen Ländern präsente Affinität zum Trinken und die offensichtlichen sowie subtilen Folgen wurden nicht nur in der Hommage an Roy Andersson, sondern auch in Klassikern deutlich. Zum Beispiel in GASSENJUNGEN von Ulf Greber und Arne Skouen (1949), der in der Retrospektive zu sehen war. GASSENJUNGEN verhandelte das Thema Alkoholismus durch die Väter – beziehungsweise die Abwesenheit der alkoholkranken Väter – mit. Vor dem Hintergrund des Osloer Eisen- und Hafenarbeiterstreiks von 1923/24 begeht eine heranwachsende Jungsclique ohne Aussicht auf Jobs oder Lehrstellen erst kleinere Diebstähle, und schließt sich dann den streikenden Erwachsenen an, die auch nicht vor Brandstiftung Halt machen. Etwas überdeutlich pädagogisch inszeniert ist GASSENJUNGEN dann am stärksten, wenn er die Gruppendynamiken herausstellt. Und die nicht nur adoleszenten inneren Zerrissenheiten offenlegt: Will ich zur Gruppe gehören oder nicht, will ich mit den cool kids abhängen oder mit den lieben, loyalen, die in ihrer Beständigkeit manchmal drohen, langweilig zu werden?

SLOW © Salzgeber
SLOW © Salzgeber

Apropos universelle Themen: Im Wettbewerb lief mit dem litauischen SLOW von Marija Kavtaradze (Regiepreis beim Sundance Film Festival) ein Spielfilm, der sich das bislang cineastisch noch wenig beachtete Thema Asexualität vornahm: Elena (Greta Grinevičiūtė) ist eine Modern-Dance-Tänzerin, die mit gehörlosen Jugendlichen eine Choreographie für ein Sommercamp einstudieren soll. Damit das reibungslos abläuft, wird ihr Dovydas (Kęstutis Cicėnas) zur Seite gestellt, ein Gebärdedolmetscher. Die beiden sind sofort auf der gleichen Wellenlänge, die Kommunikation wird flirty, es entstehen Gefühle. Doch kann eine Beziehung funktionieren, wenn eine Person ein klares sexuelles Bedürfnis hat und die andere Person kein Verlangen spürt? SLOW macht deutlich, dass auch offene Beziehungsmodelle nicht für alle Menschen dieser Erde die Lösung aller Beziehungsprobleme versprechen. Vor allem aber lebt der Film von der Chemie, Präsenz und körperlichen Energie seiner beiden Hauptdarsteller*innen in einem überhaupt sehr gesten – und bewegungsreichen Film: Greta Grinevičiūtė spielt die lebensbejahende Elena mit Furor und Kęstutis Cicėnas gibt einen überzeugenden zögerlichen Dovydas, der versucht, seiner Partnerin entgegen zu kommen, obwohl es ihm widerstrebt. Allein sein, einsam sein, ob mit dem falschen/richtigen Menschen oder auf sich gestellt in der Natur – das blieb auch mit SLOW der rote Faden der Nordischen Filmtage.

Marie Ketzscher