„Echte Diskussionen sind ansteckend“ – Interview mit der Künstlerischen Leitung der 10. Ausgabe der Woche der Kritik


DREAMS ABOUT PUTIN © Nastia Korkia 2023
DREAMS ABOUT PUTIN © Nastia Korkia 2023

Die Woche der Kritik findet in diesem Jahr vom 14. bis 22. Februar statt und bietet die Möglichkeit, sich intensiver mit der Film- und Kulturbranche auseinanderzusetzen, als dies bei vielen anderen Filmfestivals möglich ist. Das liegt vor allem daran, dass die sorgfältig kuratierten Programme stets von Podiumsdiskussionen begleitet werden und eine Auftaktkonferenz die Woche einleitet. 

Anlässlich der zehnten Ausgabe hat Berliner Filmfestivals mit Petra Palmer und Dennis Vetter, zwei Mitgliedern der Kollektiven Künstlerischen Leitung der Woche der Kritik, gesprochen. Sie geben Einblicke in die aktuelle Situation der Film- und Kulturbranche,  insbesondere im Hinblick auf das wichtigste deutsche Filmfestival, die Berlinale, tauchen tiefer in das Thema der diesjährigen Auftaktkonferenz ein und haben Tipps, was man bei der Woche der Kritik gesehen haben sollte. 

Ihr feiert in diesem Jahr ein Jubiläum: Die Woche der Kritik findet zum 10. Mal statt. Was hat sich über die Jahre verändert? Welchen Herausforderungen steht ihr aktuell gegenüber?
Petra Palmer und Dennis Vetter: Die aktuellen Herausforderungen in der Film- und bzw. in der Kulturbranche sind mehr denn je von politischen Debatten geprägt, die nicht nur die Filme selbst betreffen, sondern die Kulturpolitik als Ganzes. Gerade treffen unterschiedliche Wahrnehmungen aufeinander, die es zu sortieren gilt und dabei ist es für alle wichtig, vor allem immer differenziert und genau mit den Informationen umzugehen. Die Woche der Kritik steht mit ihren Debattenveranstaltungen immer schon für eine lebhafte Diskussionskultur, dennoch ist es wichtiger denn je, Polarisierungen und Polemik zu vermeiden.  

Verändert hat sich ganz konkret die Berlinale, zu der wir in den ersten Jahren noch vermehrt und vehement Stellung bezogen haben. Wir hatten beispielsweise thematisiert, dass bei dem Festival ein sehr thematisch orientierter Begriff von politischem Kino bestand. Carlo Chatrian hat sich beim Festival als ehemaliger Leiter des Filmfestivals in Locarno deutlicher zur Cinephilie bekannt, was wir sehr begrüßt haben. Allerdings hat durch die Sektion Encounters auch eine allzu deutliche kuratorische Positionierung innerhalb des Wettbewerbs vermieden. Kulturpolitisch hat er sich außerdem zurückgehalten und als Künstlerischer Leiter des Festivals keine nachdrücklichen Impulse für die Filmpolitik in Deutschland gesetzt. Für die Festivalausgabe 2025 steht eine neue Veränderung bevor, Tricia Tuttle kennen wir bereits von ihrer Arbeit in London und werden aufmerksam hinsehen, welche Positionen sie als Berlinale-Leitung beziehen wird.

Die diesjährige Auftaktkonferenz thematisiert den vom Menschen verursachten Klimawandel unter dem Titel „Filmemachen um jeden Preis? – Kino, Kritik, Klimakrise“. Der Begriff Nachhaltigkeit wird mittlerweile inflationär verwendet. Seht ihr die Gefahr des „Greenwashing“ in der Filmbranche und auch bei Filmfestivals?
Als wir die diesjährige Eröffnungsveranstaltung vorbereitet haben, hatten wir zahlreiche Vorgespräche mit Branchenvertreter*innen, insbesondere aus dem Bereich der Produktion, auf den wir uns bei der Veranstaltung konzentrieren werden. Die Diskussion über Greenwashing im Bereich der Filmproduktion berührt wie auch in anderen Branchen die Frage, welche konkrete Maßnahmen sinnvoll sind und wer darüber entscheidet, wie diese konkret bei Filmproduktionen umgesetzt werden. Alte Generatoren zu verschrotten und gleichzeitig Neuanschaffungen zu fordern, schien manchen Befragten weniger sinnvoll, als bestehende Ressourcen möglichst sinnvoll zu nutzen, bis diese aufgebraucht sind. Zu selten werden innerhalb der Branche anscheinend bestehende und bereits ressourcenschonende Produktionsweisen als nachhaltig anerkannt. Stattdessen werden Lösungsmodelle umgesetzt, die zumindest in Deutschland nicht von Personen entwickelt wurden, die selbst im engeren Sinne in der Filmproduktion tätig sind.

Auch zur aktuellen Vorgehensweise im Bereich der Datenerfassung mit CO2-Scannern gab es gemischte Gefühle. Uns wurde nahegelegt, dass innerhalb der Branche ein gewisses Zögern bestehe, Lösungsansätze wirklich an der Praxis zu überprüfen. Zudem sprachen viele die Arbeit von Green Consultants und zusätzliche Kosten sowie wachsende Bürokratie bei Filmproduktionen an. Große Firmen, die auch einen besonders großen CO2-Abruck hinterlassen, hätten hier eher die Mittel, Consultant-Stellen zu bezahlen und ihre Filme entsprechend der aktuellen Standards der FFA zu produzieren. Die deutschen Richtlinien zur Filmproduktion erschweren unseren Vorgesprächen zufolge vor allem kleinere Produktionen mit geringen Budgets, die von der zusätzlich notwendigen Bürokratie überfordert sind. Grüne Produktionsstandards in der aktuellen Form können also auch dazu führen, dass letztlich größere Projekte ungehindert stattfinden – bloß eben zertifiziert.

Gleichzeitig wird das wirklich nachhaltige Filmemachern im Bereich kleinerer und unabhängiger Produktionen durch neue Regularien und Nachweispflichten sowie steigende Kosten für nachhaltige Produktionsmittel noch zusätzlich erschwert. Dieses Wechselspiel ließe sich als Greenwashing bezeichnen. Im Rahmen unserer Konferenz werden wir auch über andere Produktionsländer sprechen und möchten die Diskussionsteilnehmer*innen vor allem nach ihrer persönlichen Arbeitsethik im Bezug auf Klimaschutz befragen. 

Wie nehmt ihr persönlich die Entwicklung zu einem nachhaltigen Filmemachen wahr? Glaubt ihr, dass sie wieder rückläufig ist?
In Deutschland ist das Thema des Nachhaltigen Filmemachens seit rund 10 Jahren auf dem Tisch, etwa ein bis zwei Jahre vor dem Ausbruch der Pandemie zog hier die Dringlichkeit nochmal akut an. Dass es heute Richtlinien für grünes Filmemachen gibt, an die sich Produktionen hierzulande halten müssen, ist dem Engagement einiger weniger Personen zu verdanken – insbesondere der Name Philipp Gassmann fällt hier sehr häufig. Seit Juli 2023 gelten Regularien in Form von 22 konkreten Vorgaben für geförderte Filmproduktionen. Diese sollen in den kommenden Jahren weiter verschärft werden. Auf politischer Ebene ist also die Regulierung der Filmproduktion derzeit keineswegs rückläufig.

Die Frage auf einer internationalen Ebene zu beantworten ist kaum möglich, da der Aspekt der Nachhaltigkeit in unterschiedlichen Filmländern einen ganz unterschiedlichen Stellenwert besitzt. In Großbritannien wurden Ansätze für nachhaltiges Produzieren aus der  Branche heraus entwickelt, nicht durch ein politisches Gremium. England nimmt in dem Bereich eine Vorreiterrolle ein. In den USA sind zahlreiche Produktionen durch Unternehmen finanziert, Regularien sind in der Branche besonders schwer umzusetzen. Ein Filmemacher aus Kamerun erzählte uns kürzlich, wie sehr die Frage nach Nachhaltigkeit eine westliche Frage sei. Für ihn sei aktuell nicht relevant, Strom für einen Dreh zu sparen, sondern überhaupt eine Stromversorgung zu ermöglichen. Nachhaltigkeit ist eine Frage der Perspektive. Insbesondere unabhängige Filmschaffende befassen sich mit Fragen der Ökologie unserer Erfahrung nach derzeit sehr intensiv. 

Achtet ihr bei eurem Festival auch auf Nachhaltigkeit? Wenn ja, könnt ihr einige eurer Maßnahmen nennen?
Nun, wir versuchen unsere Gäste davon zu überzeugen, die öffentlichen Nahverkehrsmittel zu benutzen. Das ist nicht immer einfach. Vielleicht scheint es ein Tropfen auf dem heißen Stein, wenn jemand mit dem Flugzeug anreist, aber da macht es eben die Menge. Wenn sich Flugreisen vermeiden lassen, dann reduzieren wir diese. Wir versuchen Gäste für längere Zeiträume einzuladen und auf mehreren Ebenen einzubinden. Natürlich sind Flugreisen der größte Faktor. Die Corona-Pandemie hat uns aber auch daran erinnert, dass es wichtig ist, persönlich aufeinanderzutreffen. Das gilt für die gegenwärtigen Konflikte ebenso.

AN EVENING SONG © Graham Swon
AN EVENING SONG © Graham Swon

Welche Filme würdet ihr denjenigen empfehlen, die das Thema der Auftaktkonferenz auch im Filmprogramm aufgegriffen sehen wollen?
Im Besonderen gibt es am 16.2. das Filmprogramm zur Konferenz, das von dem Kunsthistoriker und Kulturkritiker T. J. Demos zusammengestellt wurde. Er befasst sich in seiner Arbeit gezielt mit den Schnittmengen von Politik, Kapitalismus, Ökologie und Kunst. Den Filmemacher Graham Swon, dessen neuen Film AN EVENING SONG (FOR THREE VOICES) wir am ersten Abend diskutieren werden, beschäftigt der aktuelle Zusammenbruch des Ökosystems tiefgreifend. Er produziert seine Filme gezielt in kleinem und unabhängigen Maßstab und steht der Branche kritisch gegenüber. Ob sich dieses Bewusstsein in seinen Bildern niederschlägt, werden wir dann sehen und diskutieren. 

Die Woche der Kritik zeichnet sich seit Beginn durch einen starken Fokus auf die Kommunikation über Filme und das Filmemachen aus. Glaubt ihr, dass eine vertiefte, gesellschaftlich relevante Auseinandersetzung mit dem Medium immer weniger stattfindet, und wenn ja, woran liegt das?
Im Bereich der Filmkritik verfügen ja bekanntermaßen oft die Medien selbst über immer weniger über Ressourcen und Redaktionen für eine fachkundige und kritische Berichterstattung, so dass nicht genügend Zeit und Platz bleibt. Davon abgesehen ist es gesellschaftlich zunehmend schwer, gemeinsam über Filme zu kommunizieren, wenn alle etwas anderes schauen. Durch die zunehmende Zersplitterung der Sehgewohnheiten und die Zunahme an digitalen Plattformen für Filme fehlt es an Fixpunkten, wo wirkliche Diskussionen auf einer gemeinsamen Grundlage entstehen können. Einzelne Filme funktionieren hier natürlich auch selbst als Anlässe und ermöglichen gesamtgesellschaftliche Diskussionen – was zuletzt etwa die Erfolge von BARBIE und OPPENHEIMER zeigten, die gleichzeitig Diskursfilme und Blockbuster waren. Im Internet entstehen neue und selbstorganisierte Formen der Auseinandersetzung mit Bildern, etwa auf Plattformen wie TikTok, wo sich #Corecore zu einem Phänomen entwickelt hat. Hier schafft die Plattform den Anlass. 

In der Gesellschaft Räume herzustellen, an denen vor Ort Begegnungen und Debatten stattfinden können, erfordert ein großes Maß an Arbeit – das wissen wir nach zehn Festivalausgaben gut. Und der Aspekt des Kinos als wichtiger Ort der sozialen Zusammenkunft wurde während der Pandemie nicht zufällig sehr deutlich betont. Uns trieb seit der ersten Festivalausgabe der Impuls an, bei der Berlinale einen Raum für das konzentrierte Zusammenkommen zu schaffen. Diesen gibt es beim Festival andernorts bis heute nicht. Die Berlinale unter Carlo Chatrian hat allerdings versucht, deutlich mehr Angebote für Gesprächsformate zu machen. Unserer Wahrnehmung nach kommt Festivals eine große Verantwortung zu, als Knotenpunkte der Filmkultur mehr zu bieten, als ein kuratiertes Programm, sondern auch Begegnungsräume zu schaffen. Viel zu häufig begnügen sich Veranstaltungen im Filmbereich heute damit, pragmatische und oberflächliche Fragerunden bei Filmpremieren zu organisieren. Echte Diskussionen hingegen sind ansteckend.  

Warum braucht es aktivistische Filme und wie erreicht man ein Publikum, das dafür offen ist? 
Aktivistische Filme erreichen ihr Publikum in der Regel über ihr Thema und richten sich an Aktivist*innen. Ob es diese Filme dann noch braucht, sollten die Aktivist*innen entscheiden. Bei der Woche der Kritik zeigen wir selten Filme, die auf diese Weise funktionieren. Als politisch verstehen wir Filme, die Spannungen und Widersprüche erfahrbar machen, statt ein abgestecktes Ziel zu verfolgen. Filme, die Sehgewohnheiten und Perspektiven auf die Welt herausfordern. Und Filme, die hierfür die besonderen Mittel des Kinos nutzen.

Wenn wir unsere Filme als aktivistisch beschreiben müssten, würden wir sagen: Unsere Filmemacher*innen sind Aktivist*innen für das Kino! Sie fordern die Bedeutung ihrer Kunstform gesellschaftlich ein, indem sie demonstrieren, was das Kino gesellschaftlich unersetzbar macht. Die Kulturpolitik wiederum sollte die Bedeutung des Kinos nicht an der Offenheit des Publikums messen, sondern an dessen Verschlossenheit. Während in vielen Ländern konservative Strömungen politisch um sich greifen, braucht es umso mehr eine entschlossene Verteidigung der Kunstfreiheit. Diese wiederum sehen wir als Aufgabe der aktivistischen Filmkritik.

Wie hoch schätzt ihr die Relevanz von Filmen zu gesellschaftlichen Diskursen ein?
Um überhaupt die Komplexität der Welt zu verstehen, sind viele Perspektiven auf die Themen gefragt, die gerade gesellschaftlich und politisch hochkochen. Das Kino hat als internationale Kunstform in besonderem Maß die Fähigkeit, die Wahrnehmung der Menschen über ihre “bubbles” und Kulturkreise hinaus zu erweitern. Die Behauptung von der Messbarkeit der Kunst an ihren gesellschaftlichen Ergebnissen ist aber üblicherweise eine Strategie, die eher in konservativen Kreisen verbreitet ist. Der Nutzen der Kunst für die Gesellschaft besteht hingegen unserer Ansicht nach ganz grundlegend erst einmal darin, dass sie nicht nützlich zu sein hat. Sie stört die Routinen. Sie spürt Ideen auf, für die die Gesellschaft noch keine Sprache gefunden hat. Und sie lotet das Maß der Freiheit aus, das in einer Gesellschaft besteht – also die Grundlage, aus der offene Diskurse erst entstehen können.

WIKIRIDERS © Clarer Winter & Miiel Ferráez 2024
WIKIRIDERS © Clarer Winter & Miiel Ferráez 2024

Was sind eure persönlichen Empfehlungen und Geheimtipps aus dem diesjährigen Filmprogramm?  Ein echter Geheimtipp ist unser diesjähriger Abschlussabend am 22. Februar, bei dem wir ganz gezielt die Routinen des Festivalkinos und die Sehgewohnheiten unseres Publikums thematisieren wollen. Wir zeigen den ersten Langfilm von Clara Winter und Miiel Ferráez, die bisher im Kurzfilmbereich durch ihre selbstironischen Filme viele Fans gewonnen haben. Ihr Film WIKIRIDERS ist gleichzeitig ein Western, ein Roadmovie und ein Experimentalfilm und hat uns fast ein wenig an die Nouvelle Vague erinnert: Sie sabotieren ganz gezielt die Filmform und stellen damit die Frage, welche Qualitäten ein Film eigentlich besitzen muss, um für die Auswahlkommission eines Festivals zu funktionieren. Davor zeigen wir einen Kurzfilm von Catarina Vasconcelos, der genau das Gegenteil verkörpert und in der aktuellen Festivalsaison als absoluter Hingucker gilt: NOCTURNE FOR A FOREST. Ihr Film wurde uns wirklich von auffällig vielen Kolleg*innen empfohlen. Und wir spielen an dem Abend einen noch kürzeren, dadaistischen Film von Natalia del Mar Kašik, der das Western-Genre nochmal grundlegend feministisch aushebelt: PISTOLERAS.

Wer es gerne kontrovers mag, sollte sich den Abend am 19. Februar nicht entgehen lassen, an dem wir gleich zwei Filme spielen, die die Moral und Ethik des Publikums herausfordern werden: DREAMS ABOUT PUTIN und TEDIOUS DAYS AND NIGHTS.      

Auf welche Highlights des Festivals – abseits des Filmprogramms – freut ihr euch besonders?
Wir freuen uns vor allem auf unsere Gäste und die Gespräche, ohne die unsere Filmprogramme nicht denkbar wären.  Dieses Jahr arbeiten wir auch mit dem Locarno BaseCamp zusammen, wo seit zwei Jahren aufregende, experimentelle Filmgespräche kuratiert werden – zuletzt etwa eine Veranstaltung, die eine komplette Nacht über andauerte. In einer kleinen Diskussionsrunde wird Rafael Dernbach aus Locarno zu Gast sein und mit Vertreter*innen unterschiedlicher Film-Initiativen über die Diskussionskultur bei Filmfestivals sprechen.