74. Berlinale: Nachdenken über die Gewinner der Berlinale Shorts


AN ODD TURN © 36 caballos
AN ODD TURN © 36 caballos

Hoffnungen, Wünsche, Erwartungen

all for nothing?

Lucrecia wirkt ganz schön abgeklärt, als sie ihren Posten als Nachtwärterin eines Museums verliert, weil man sie beim Sex-Talk über den hausinternen Funk mit einem älteren Kollegen erwischt. Sie würde lieber eine Abfindung bekommen, als den Job behalten, sagt sie, und hat dann gleich die nächste schlecht bezahlte Anstellung am Wickel – als Security soll sie in den Outskirts von Buenos Aires verhindern, dass die Mitarbeiterinnen die Starbucks-Wegwerf-Becher einstecken, wenn sie die Fabrik verlassen. Capitalism hits row bottom. Francisco Lezamas AN ODD TURN (UN MOVIMIENTO EXTRAÑO), der bei der 74. Berlinale den Goldenen Bären als bester Film gewann, zeigt uns mit Lucrecia eine Protagonistin, die repräsentativ sein könnte für eine ganze Generation an Argentinier*innen: Vor dem Hintergrund der steigenden Inflation und fehlenden Perspektiven schlägt sich diese Generation durch, ohne besondere Zukunftsfantasien, ein bisschen robotermäßig.

AN ODD TURN findet dafür die passende nüchtern-ironische Tonalität, und entwickelte tolle Bildideen konsequent weiter. Immer mit Fokus auf fast unbewegt scheinende Gesichter, in denen sich selten die Andeutung eines Lächelns zeigt: Nie wissen wir, was die Charaktere antreibt, weil wir ihre Blicke nicht deuten können. Sehr präsent ist dafür der Sex in diesem Film – im Grunde scheint er das einzig übrig gebliebene Mittel, sich einer irgendwie gearteten Wertigkeit und menschlichen Verbundenheit zu versichern. Für den Lover der Protagonistin ist er außerdem eine weitere Naturalie beim Austausch ständig rarer werdender Ressourcen.

REMAINS OF THE HOT DAY © Trembling Flame Films
REMAINS OF THE HOT DAY © Trembling Flame Films

Wie unter einer Glocke leben auch die Protagonist*innen von Wenyian Zhangs REMAINS OF THE HOT DAY (RE TIAN WU HOU), der den Silbernen Bären (Preis der Jury) mit nach Hause nehmen konnte. Im China der 90er angesiedelt, sehen wir eine Familie an einem heißen Sommertag um die Mittagspause herum, in beengten Räumen, oft schweigend. In allen Kameraeinstellungen wabert die Hitze, spürt man die erdrückende Schwere, den Schweißfilm. Man will selbst den Ventilator aus dem Keller holen. Es drückt so arg, dass die schwelenden Konflikte greifbar sind, eine Angespanntheit dominiert, die sich aber nie Bahn bricht. Fast geht unter, dass hier jemand die Flucht plant – die Hauptverdienerin des Haushalts übt Englischvokabeln, die eine baldige Ausreise deutlich machen. Die Schwere des Sommers ist hier nicht nur wetterbedingt, sie entspricht auch der persönlichen Gemütslage des Eingesperrtseins.

THATS ALL FROM ME © Eva Könnemann
THATS ALL FROM ME © Eva Könnemann

Zu den sich-befreien-wollenden Protagonist*innen der diesjährigen Berlinale-Ausgabe gehört im Grund auch Eva Könnemann mit THAT’S ALL FROM ME (SO VIEL VON MIR), der prämierte Berlinale-Shorts-Kandidat für den Europäischen Kurzfilmpreis. Hier wird allerdings nicht primär die Struktur, der einzwingende gesellschaftliche Zusammenhang sichtbar gemacht, sondern diskutiert: Als fiktiver Briefwechsel zwischen Regisseurin und einer Schriftstellerin, die übers Muttersein geschrieben hat, ein Videobriefwechsel also. Dabei geht es um die Frage: Wie kann man Mutter sein und Filme machen? Und damit meint die Frage gar nicht so sehr das vielbeschworene doppelte Arbeitsaufkommen, sondern die neue Rolle, die auch im positiven Sinne vereinnahmt und alles verändert. Die „Brieffreundin“ empfiehlt: Mach etwas Konkretes, einen konkreten Film, beispielsweise über einen Vogelbeobachter. Das ist dann die zweite Hälfte des Films: Eva Könnemann porträtiert einen Vogelbeobachter und unterhält sich mit ihm, ist auch selbst im Bild. Das ist unsagbar komisch, aber auch ergreifend ehrlich und direkt. Quasi ein autofiktionales Vogel-Briefessay über das gute alte Ins-Machen-Kommen. Und vielleicht ein geglückter Aus – oder Aufbruch.