Oscarverleihung 2024 – eine Prognose, Teil #1
Am Sonntag werden in Los Angeles zum 96. Mal die Oscars verliehen. Bei dieser Prognose geht es nicht darum, herauszufinden, welche Filme die besten sind, sondern welche Filme bei der Academy die besten Chancen haben. Dafür habe ich geschaut, welche Trends und Entwicklungen sich während der Awards Season abzeichneten. Kritikerpreise, aber mehr noch die Precursor Awards, die Entscheidungen der einzelnen Berufsgruppen (Guilds), geben Hinweise, welche Filme am Ende wahrscheinlich die Oscars gewinnen können.
Im 1. Teil geht es um die Kurzfilme, die Dokumentarfilme und die Animierten Spielfilme.
I. Die Kurzfilme
a) Animierter Kurzfilm
Wird gewinnen: WAR IS OVER! INSPIRED BY THE MUSIC OF JOHN & YOKO – schon der Titel ist ein Eyecatcher. In einer fiktionalisierten Version des 1. Weltkriegs stehen sich verfeindete Truppen gegenüber, doch zwei Soldaten tragen mithilfe einer mutigen Taube über die Schützengräben hinweg ein Schachspiel aus. Die Animation mischt CGI und klassische Zeichentrickkunst. Der Film sieht toll aus. Leider ist die Story etwas zu simple, aber wer wollte schon gegen einen von John Lennon inspirierten Film wetten?
Sollte gewinnen: NINETY-FIVE SENSES, in dem ein alter Mann in einer Zelle auf seine Hinrichtung wartet und sich an sein Leben erinnert. Jede Episode ist an einen der fünf Sinne gekoppelt und grafisch anders gestaltet als der Rest. Visuell und erzählerisch ist dies gewiss der interessanteste Beitrag.
Außerdem nominiert: LETTER TO A PIG, ein grafisch sehr aufregender Film, in dem ein Holocaustüberlebender einem Schwein sein Leben verdankt.
OUR UNIFORM, eine iranische Satire über Kleidervorschriften und wie diese Sexismus schon bei Schulkindern implementieren. Dem Thema angemessen wird die Geschichte sehr stofflich zwischen den Falten eben jener Schuluniform erzählt.
PACHYDERME, ein französischer Film, in dem ein Mädchen den Sommer bei den Großeltern auf dem Land verbringt. Traumhaft-surreal animiert geht er einem Geheimnis auf die Spur.
Unterm Strich könnte jeder dieser Filme gewinnen, aber WAR IS OVER! mit seiner opulenten Gestaltung und populären musikalischen Untermalung dürfte gerade bei älteren Academy Mitgliedern die stärkste Zugkraft entwickeln. Allerdings weiß die Academy in dieser Kategorie auch immer wieder zu überraschen.
b.) Live Action Kurzfilm
Wird gewinnen: THE WONDERFUL STORY OF HENRY SUGAR von Wes Anderson. Die Roald Dahl Verfilmung – eine von vier Dahl-Kurzfilmen, die Wes Anderson für Netflix realisiert hat – glänzt mit den typischen Ingredienzen eines Anderson Films: eine schräge Story, eine Ausstattungsorgie und eine hochkarätige Besetzung. Hier tauchen in unterschiedlich großen Rollen Benedict Cumberbatch, Ralph Fiennes, Ben Kingsley, Dev Patel, Jarvis Cocker u.a. auf. Mit 40 Minuten Laufzeit ist es der längste der nominierten Kurzfilme. HENRY SUGAR ist Andersons achte Nominierung. Die Academy mag seine Filme offensichtlich und wird ihm nun endlich seinen ersten Oscar verleihen. Bei diesem sehr wahrscheinlichen Ausgang wäre Wes Anderson der erste Gewinner dieses Oscars, der zuvor schon für die Regie eines Langfilms (THE GRANT BUDAPEST HOTEL) nominiert war.
Sollte gewinnen: RED, WHITE AND BLUE, in dem eine alleinerziehende Mutter eine aufreibende Reise in einen anderen US-Bundesstaat unternehmen muss, um dort eine dringend notwendige Abtreibung durchführen zu lassen. Ein bedrückendes gesellschaftspolitisches Drama im Thrillergewand.
Außerdem nominiert: THE AFTER, in dem ein Mann einen schrecklichen Verlust verarbeiten muss. Mit David Oyelowo hochkarätig besetzt, hat dieses leider unbefriedigende Drama über Netflix eine ähnlich hohe Reichweite wie THE WONDERFUL STORY OF HENRY SUGAR.
INVINCIBLE, der den letzten 48 Stunden im Leben eines jugendlichen Straftäters folgt, der nach einem Hafturlaub mit seiner Familie alles tut, um nicht im Gefängnis bleiben zu müssen. Das intensive, stark gespielte, kanadische Drama ist von einer wahren Begebenheit inspiriert.
KNIGHT OF FORTUNE, ein dänisches Drama, in dem zwei Männer auf sehr unterschiedliche Weise mit Trauer und Abschied umgehen.
c). Dokumentarkurzfilm
Wird gewinnen: NĂI NAI & WÀI PÓ, mit dem Regisseur Sean Wang seine beiden lebenslustigen Großmütter (83 und 94 Jahre alt) porträtiert. Die beiden rüstigen Damen haben beschlossen, im Leben nur noch Spaß zu haben. Sie tanzen, lachen und pupsen sich durch die sorgenvollen ersten Monate der Corona Pandemie. Eine allgegenwärtige Kampagne von Disney+, wo der Film demnächst auch in Deutschland abrufbar sein wird, sorgte in den letzten Wochen dafür, dass man im Großraum Los Angeles den beiden herzigen Omis kaum entgehen konnte. Das wird sich wohl auch bei den Oscars auszahlen, was bedauerlich ist, denn…
Sollte gewinnen: …mit THE LAST REPAIR SHOP hat Disney+ einen weiteren, besseren Beitrag im Rennen. In der bewegenden Studie von Ben Proudfoot, der diesen Oscar schon vor zwei Jahren mit THE QUEEN OF BASKETBALL gewinnen konnte, berichten vier Mitarbeiter eines Reparaturservices für Musikinstrumente, auf welch verschlungenen und z.T. dramatischen Wegen sie dort gelandet sind, während jugendliche Musiker die lebensverändernde Bedeutung ihrer reparierten Instrumente erläutern.
Außerdem nominiert: Vielleicht kommt es aber doch anders und der Oscar geht überraschend, wenn auch nicht unverdient an THE BARBER OF LITTLE ROCK, der Arlo Washington porträtiert, einen Friseur, der nicht nur jungen und gefallenen Existenzen ermöglicht, sich über den Beruf des Barbiers ein selbstständiges Leben aufzubauen, sondern auch mit dem von ihm ins Leben gerufenen People Trust, einem Nonprofit Finanzinstitut, seiner von Rassismus und Armut geplagten Community auf die Beine hilft.
Für ISLAND IN BETWEEN bereist Regisseur S. Leo Chiang seine Heimat, die nur wenige Meilen vor dem chinesischen Festland liegende, aber zu Taiwan gehörende Insel Kinmen, und reflektiert das eigenartige, von persönlichen Beziehungen und politischen Ängsten beherrschte Verhältnis zwischen Taiwan und der Volksrepublik China.
Der visuell und narrativ am wenigsten überzeugende Kandidat ist THE ABCs OF BOOK BANNING, der ein wichtiges politisches Thema behandelt: die zunehmenden und immer absurderen Zensurbemühungen konservativer Eltern, deren Kampagnen in einzelnen US-Bundesstaaten dazu führten, das u.a. DAS TAGEBUCH DER ANNE FRANK vom Lehrplan gestrichen und aus öffentlichen Schulbibliotheken verbannt wurde. Leider wird die Debatte in einer Art Power Point Präsentation dargestellt. Im politisch aufgeheizten Klima der USA, könnte die Academy aber dazu neigen, ihn genau deshalb mit einem Oscar zu würdigen.
II. Dokumentarfilm
Wird gewinnen: 20 DAYS IN MARIUPOL, der einem Team ukrainischer Journalisten folgt, die in den ersten Wochen des russischen Angriffskrieges in der von feindlichen Truppen belagerten Stadt Mariupol festsitzen und all den Schrecken und die Grausamkeiten des Krieges in eindringlichen, manchmal fast unerträglich brutalen Bildern einfangen. Starker Tobak und von roher Qualität, aber genau das könnte dem Film nun zum Oscar verhelfen. Denn obwohl schon der letztjähriger Gewinner dieses Oscars, NAWALNY, die Brutalität der russischen Diktatur zum Thema hatte, ruft 20 DAYS IN MARIUPOL das Drama des ukrainischen Volkes in Erinnerung zu einem Zeitpunkt, da die amerikanische Politik über die weitere Unterstützung Kiews streitet. 20 DAYS IN MARIUPOL gewann den Audience Award beim Sundance Film Festival, den DGA und den BAFTA. Nun wird der Oscar folgen.
Sollte gewinnen: TO KILL A TIGER, der von Ranjit berichtet, einem indischen Bauern, der nach Gerechtigkeit für seine Tochter sucht, die Opfer einer brutalen Gruppenvergewaltigung wurde. In der immer noch unerträglich patriarchalen Gesellschaft Indiens ist Ranjits Entscheidung, für seine Tochter einzustehen, unerhört und verschafft ihm in der bäuerlichen Gesellschaft viele Feinde. Der emotional packende Film von Nisha Pahuja ist erst spät ins Rennen gestartet und wird kaum noch genug Stimmen für den Oscar sammeln können
Außerdem nominiert: BOBI WINE: THE PEOPLE’S PRESIDENT, der den ugandischen Oppositionsführer, Aktivisten und Rapper Bobi Wine bei seinem Versuch begleitet, den langjährigen ugandischen Herrscher Museveni in der Präsidentschaftswahl zu stürzen. Wine riskiert damit sein Leben, wird unter fadenscheinigen Gründen inhaftiert und wegen Hochverrats angeklagt.
DIE UNENDLICHE ERINNERUNG über das in Chile bekannte Paar Paulina Urrutia, eine berühmte Schauspielerin und zwischenzeitliche Kulturministerin, und Augusto Góngora, der als Fernsehjournalist Verbrechen der Pinochet-Diktatur anprangerte. Seit 20 Jahren sind die beiden zusammen, doch vor acht Jahren wurde bei Augusto Alzheimer diagnostiziert. Der Film zeigt zwei sich innig Liebende, die der Krankheit zunächst noch mit Humor begegnen, doch Augustos Zustand wird bald zur schweren Belastung. Ein berührender Film, dem in seiner Heimat auch großer Erfolg an den Kinokassen beschert war.
OLFAS TÖCHTER, der den Zerfall einer tunesischen Familie nachzeichnet, nachdem sich zwei Töchter dem IS in Libyen angeschlossen haben. Regisseurin Kaouther Ben Hania war vor zwei Jahren mit ihrem Spielfilm THE MAN WHO SOLD HIS SKIN in der Kategorie Internationaler Film für den Oscar nominiert. Für OLFAS TÖCHTER gewann sie vor wenigen Tagen den César, Frankreichs Oscar Pendant, und gilt auch bei den Academy Awards als Geheimtipp.
Eine Besprechung zu OLFAS TÖCHTER findet ihr hier.
III. Animierter Spielfilm
Wird gewinnen: SPIDER-MAN: ACROSS THE SPIDER-VERSE, der zweite Teil der animierten Spider-Man-Trilogie, deren erster Film, INTO THE SPIDER-VERSE, vor fünf Jahren mit dem Oscar ausgezeichnet wurde. Die Ereignisse in jenem Film haben Portale zu alternativen Universen geöffnet, mit denen Miles Morales nun konfrontiert wird. Visuell wurde zum ohnehin schon beeindruckenden ersten Teil noch mal eine Schippe drauf gepackt. Den Figuren wie auch den unterschiedlichen Welten wurden wieder individuelle Zeichenstile angepasst, die auch das emotionale Durcheinander des pubertierenden Helden unterstreichen. Rasant erzählt und immer neue Ideen präsentierend, lässt dieser Spider-Man das gesamte MCU alt aussehen. 90 Preise wurden schon an ACROSS THE SPIDER-VERSE verliehen, u.a. CCA, PGA, der Preis der Art Director’s Guild, der American Cinema Editors und der für die Branche besonders wichtige Annie Award. Was gegen einen Oscar für SPIDER-MAN: ACROSS THE SPIDER-VERSE spricht, ist zum Einen die Tatsache, dass dieser Preis noch nie an ein Sequel ging, das nicht aus dem TOY STORY-Franchise stammte, und…
Sollte gewinnen: …DER JUNGE UND DER REIHER, der mutmaßlich letzte Film aus der Feder der japanischen Anime-Legende Hayao Miyazaki. Dessen Studio Ghibli Produktionen haben das Genre seit den frühen 1980er Jahren revolutioniert. Miyazaki ist für einige der besten animierten Spielfilme verantwortlich und schuf Meisterwerke wie MEIN NACHBAR TOTORO (1988), PRINZESSIN MONONOKE (1997) und CHIHIROS REISE INS ZAUBERLAND, für den er 2002 einen Oscar erhielt. CHIHIROS REISE ist bis heute der einzige klassische Zeichentrickfilm, der in dieser Kategorie gewann. DER JUNGE UND DER REIHER, in dem ein Junge bei einem Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg seine Mutter verliert und mit seinem Vater aufs Land zieht, wo er mit seinen Ängsten und seiner Trauer konfrontiert wird, könnte die letzte Gelegenheit für die Academy sein, den Altmeister zu würdigen. Neben vielen Kritikerpreisen gab es für DER JUNGE UND DER REIHER zuletzt auch den Golden Globe und den BAFTA.
Außerdem nominiert:
ELEMENTAL, der in einer Welt spielt, in der die vier Elemente Feuer, Wasser, Land und Luft in einer großen Stadt zusammenzuleben versuchen. Natürlich verliebt sich Wade (Wasser) in Ember (Feuer) und das Chaos nimmt seinen Lauf. Was sich auf dem Papier ziemlich doof anhört, ist tatsächlich ein hübscher, wie immer herausragend animierter Spaß aus dem Hause Pixar. Für einen Oscar wird es diesmal aber nicht reichen.
NIMONA ist die sehr gelungene Verfilmung einer populären Graphic Novel, die in einem futuristischen und zugleich mittelalterlich anmutenden Königreich spielt, in der eine faschistoide Rittergilde die Bevölkerung vor einem angeblichen Monster schützen muss. Nimona, der Bürgerschreck, ist eine Gestaltenwandlerin, die einem gefallenen Ritter hilft, seinen Namen rein zu waschen. Der hübsch gezeichnete Film stellt überraschend unverkrampft Themen wie Individualität, Identität, Homosexualität und Geschlechternonkonformität ins Zentrum. Zu sehen ist das Ganze seit Monaten auf Netflix.
Eine überraschende, gleichwohl verdiente Nominierung gibt es für die spanische Produktion ROBOT DREAMS, die komplett ohne Dialoge auskommt und die Abenteuer eines Hundes und seines Roboters im New York der 1980er Jahre zeigt. Auch dieser Film hat eine Graphic Novel als Vorlage. Die detailreichen, an den Ligne claire erinnernden Zeichnungen und seine ohne Worte auskommende Erzählung machen den Film universell verständlich.
Thomas Heil schaut seit 1992 die Oscars – und stellt jedes Jahr seine Favoriten zusammen. Seine Lieblingsfilme haben es oft nicht auf die Liste geschafft, aber darum geht es ja auch nicht, denn Film ist Kunst und kein Wettbewerb, wie man auch über Sinn und Unsinn solcher Preisverleihungen streiten kann. Nur soviel: man sollte sie gewiss nicht zu ernst nehmen.
In Teil 2 wird es um die Awards in den technischen Kategorien gehen.