67. DOK Leipzig: PELIKAN BLUE von László Csáki
Antihelden, überflüssige
Jeder Animationsfilm muss genauso lang sein, wie es die Komplexität des Stoffs beziehungsweise der Stoff selbst erfordert. Das war recht schnell die einhellige Meinung des Panels „Twentysomething– The Shift to Medium Length Film in Animation“, das bei der DOK Leipzig über die Tatsache diskutierte, das kurze Animationsfilme neuerdings immer länger werden. Und sich dabei ein bisschen zu einig war, dass die Tendenz einhellig positiv zu bewerten sei – es klang manchmal fast gerade so, als wären Kurzfilme nicht in der Lage, komplexe Themen zu vermitteln. Hallo Michaela Pavlatovas REPETE, hallo DER MÖNCH UND DER FISCH von Michael Dudok de Wit oder, um aktuell zu bleiben, auch hallo Anna Samos DOK-Leipzig-Beitrag THE WILD-TEMPERED CLAVIER? Das sind nur einige, völlig wilde Gegenbeispiele zu dieser These.
Nach der Logik Komplexität-des-Stoffs=Länge-des-Films müsste László Csákis PELIKAN BLUE jedenfalls eigentlich ein Kurzfilm sein, einer unter 10 Minuten. Es ist daher eine ziemliche Überraschung, dass der Film die Goldene Taube in der Kategorie „Bestes Animations-Feature“ für die Verkörperung der „Vorstellungskraft jenseits physischer, sozialer, politischer Zwänge und Grenzen“ (Jury-Zitat) mit nach Hause nehmen dürfte. Oder auch: eine ganz schöne Irritation.
Die Geschichte von PELIKAN BLUE lässt sich schnell erzählen: In den Wirren des Zusammenbruchs der Sowjetunion haben drei junge ungarische Typen Bock aufs Reisen – aber nicht das Geld dazu. Also fangen sie an, Bahntickets zu fälschen und bereisen damit ganz Europa, was natürlich im Bekanntenkreis zu Begehrlichkeiten führt. Aus einzelnen Freundschaftsdiensten und amourös-bedingten Gefälligkeiten wird ein Geschäft, ein ganz schön lukratives. Bis sie nach der Jahrtausendwende (!!!) drohen, hochzugehen.
Das auf wahren Begebenheiten beruhende AniDoc PELIKAN BLUE ist als romantisch-vernebeltes „Weißt-du-noch, damals…?“ inszeniert: Die Grundlage bilden Gespräche zwischen den Beteiligten, die vor ein paar Jahren aufgenommen wurden; eine reine Dude-Runde, die sich schulterklopfend anekdotische Fetzen aus ihrer „Abenteurer-Phase“ zuwirft. Wir sehen sie immer wieder als ältere Herren in einem Diner sitzen, dazwischen geschnitten die rosaroten, sich dauernd wiederholenden Erinnerungen, zum Teil High-End-Motion-Design, gerade wenn es um die Ticketfälschung und Passübergaben geht, ansonsten bleibt die Animation recht unoriginell, einen generischen, amerikanischen Beavis-and-Butthead-Stil referenzierend. Selbstreflektion, Selbstironie, kritischer Blick: Völlig abwesend. Dramaturgisch gesehen passiert eigentlich ohnehin gar nichts. Wir wissen ja, dass ihnen die Polizei irgendwann auf die Schliche kommen wird und dass sie scheinbar glimpflich davon gekommen sind.
Zu keinem Zeitpunkt erschließt sich zudem, warum sich das Publikum für diese Truppe mit fürchterlich narzisstischer Start-up-Mentalität erwärmen sollte. Klar, die Fälscherei ist anfangs ein Kavaliersdelikt, ein frecher Jungenstreich in einem dysfunktionalen System, dass die rechtlichen Grauzonen in einer Umbruchsphase neuer widersprüchlicher Gleichzeitigkeiten für sich zu nutzen weiß. Aber spätestens Mitte der 90er Jahre brauchen sich die Typen gar nicht wundern, dass sie als Kriminelle gelten – umso verwunderlicher, dass sie sich dafür abfeiern, dass sie nicht eingebuchtet wurden. Das in ungefähr jeder zweiten Anekdote artikulierte Generositäts-Narrativ „Wir wollten ärmeren Menschen das Reisen ermöglichen“ glaubt man ihnen jedenfalls in keinem Moment. Die dicke Freundschaft genauso wenig. Und dass sie sich dann auch noch als politische Rabauken, geradezu Revolutionäre, gerieren, ist kaum zu fassen. Ein Clan ist nach diesem Verständnis vielleicht auch ein sympathische, lustige Aktivistengruppe.
Am ärgerlichsten an PELIKAN BLUE sind aber die Geschichten und Hintergründe, die der sage und schreibe 80 Minuten lange Film nicht erzählt: Geschichten über die Systemtransformation Ungarns oder die Prädisposition zu augenzwinkernden Taschenspielertricks, die diktatorische Systeme ihren Bürger*innen fast schon als erfinderische Notwehr aufzwingen. Alles verpasste Chancen, alles mindestens verpasste Kurzfilme. Meinetwegen auch verpasste (mittel)lange Filme.