Oscarverleihung 2025 – eine Prognose, Teil #1


FLOW  © 2024 Dream Well Studio, Sacrebleu Productions, Take Five
Vermutlich nur ein Gewinner der Herzen: FLOW © 2024 Dream Well Studio, Sacrebleu Productions, Take Five

Kurzfilme, die Dokumentarfilme und die Animierten Spielfilme

Am Sonntag werden in Los Angeles zum 97. Mal die Oscars verliehen. Bei dieser Prognose geht es nicht darum, herauszufinden, welche Filme die besten sind, sondern welche Filme bei der Academy die besten Chancen haben. Dafür habe ich mir wieder die einzelnen Kritikerpreise und die Precursor Awards angeschaut.

I. Kurzfilm

WANDER TO WONDER © Miyu Distribution
Keine Chance, aber gern gesehen: WANDER TO WONDER © Miyu Distribution

a)Animierter Kurzfilm

Wird gewinnen: YUCK!, in dem eine Gruppe von Kids in einem Sommercamp angewidert beobachtet, wie ältere Leute sich küssen und, dass immer kurz bevor sie sich küssen, ihre Lippen beginnen, pink zu strahlen. Dumm nur, dass Léo dieses Phänomen auch bei sich selbst schon erlebt. Vor allem, wenn seine Freundin Lucie in der Nähe ist. Der charmant animierte 13 Minüter aus Frankreich erfüllt das in dieser Kategorie scheinbar wichtigste Kriterium: er ist einfach „cute!“ Das hat schon bei vielen anderen Gewinnern geholfen.

Sollte gewinnen: WANDER TO WONDER, in dem einige Figuren aus einer 80er Jahre Kindersendung in einem aufgegebenen TV Studio ausharren und sich fragen, was aus einer Welt geworden ist, die sie offensichtlich vergessen hat. Der bezaubernde britische Stop-Motion-Film gewann immerhin den BAFTA, kann also als einziger unter den Nominierten einen Precursor Award vorweisen.

Außerdem nominiert: der belgische Beitrag BEAUTIFUL MEN, in dem drei in die Jahre gekommenen Männer nach Istanbul reisen, um dort eine Haartransplantation vornehmen zu lassen. Der etwas spröde Stop-Motion-Film bringt viel Sympathie für seine unvollkommenen Protagonisten auf.

IN THE SHADOW OF THE CYPRESS aus dem Iran erzählt in hübsch minimalistischer Gestaltung von einem alten Offizier, der mit seiner Tochter am Strand lebt und mit  den Dämonen seiner Vergangenheit kämpfen muss.

In MAGIC CANDIES wiederum will niemand mit dem kleinen Dong-Dong spielen. Als er eines Tages die titelgebenden magischen Bonbons lutscht, beginnen plötzlich die Gegenstände um ihn herum, mit ihm zu sprechen. Der hübsch animierte Film aus Japan stellt große Fragen und richtet sich wie die meisten hier nominierten Filme eher an ein reiferes Publikum.

b) Live Action Kurzfilm

Wird gewinnen: Zwei Filme, die repressive politische Systeme beschreiben, werden diesen Oscar wohl unter sich ausmachen. In A LIEN muss eine weiße Frau erleben, wie ihr Latino-Mann bei der Beantragung der US-Staatsbürgerschaft von Sicherheitskräften in der Behörde selbst gejagt, verhaftet und abtransportiert wird. Der sehr bewegende Film ist ein 15minütiger Alptraum, der in seiner filmischen Gestaltung an das Stresskino der Safdie Brothers erinnert.

Etwas weniger hektisch, dabei aber nicht weniger beunruhigend geht es in dem kroatischen Beitrag THE MAN WHO COULD NOT REMAIN SILENT zu, der auf einer wahren Begebenheit im bosnischen Bürgerkrieg beruht. 1993 werden 500 Zugreisende von einer paramilitärischen Einheit durchsucht, die offensichtlich ethnische Säuberungen durchführt. Als ein junger Mann ohne Papiere in Erklärungsnot gerät, ist ein einziger Passagier bereit, dagegen Protest zu erheben. Tomo Buzov, dem dieser Film gewidmet ist, wird das mit dem Leben bezahlen. THE MAN WHO COULD NOT REMAIN SILENT gewann im Frühjahr in Cannes die Goldene Kurzfilm-Palme und ist als zehnter Gewinner dieses Preises auch für den Oscar nominiert.

Sollte gewinnen: die niederländische Science Fiction Farce I AM NOT A ROBOT, in dem in naher Zukunft eine Frau eines dieser nervigen Captchas lösen muss. Nachdem das Programm auch nach mehreren Versuchen nicht anerkennen will, dass es sich bei der Frau nicht um einen Roboter handelt, kommt ihr ein schrecklicher Verdacht. Dieses exzellent inszenierte Mini-Meisterwerk soll demnächst zu einem Langfilm ausgebaut werden. Es hat das Zeug zu einem modernen Klassiker.

Außerdem nominiert: der indische Film ANUJA, in dem ein junges Mädchen eine folgenschwere Entscheidung treffen muss, die ihr Leben, aber auch das ihrer etwas älteren Schwester beeinflussen wird. Als einziger hier nominierter Kurzfilm läuft ANUJA auf Netflix und hat daher gewiss die größte Reichweite.

Der südafrikanische Beitrag THE LAST RANGER wiederum, der mit 28 Minuten längste hier nominierte Film, führt in die Wildnis, wo eine Rangerin versucht, Nashörner vor skrupellosen Wilderern zu schützen.

c) Dokumentarkurzfilm

Wird gewinnen: THE ONLY GIRL IN THE ORCHESTRA, der die Geschichte der Kontrabassistin Orin O’Brien erzählt, die 1966 als erste Frau für die New Yorker Philharmoniker engagiert wurde. Der Film, bei dem ihre Nichte Regie führte und der eine uneitle Frau porträtiert, die nur ungern im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, hat über Netflix die größte Reichweite und passt gut ins Portfolio früherer Gewinner in dieser Kategorie. Es ist kein schlechter Film, aber leider auch der uninteressanteste Nominierte.

Sollte die Academy eine Musik Doku auszeichnen wollen, wäre INSTRUMENTS OF A BEATING HEART die bessere Wahl. Der folgt einer Zweitklässlerin, die in einer öffentlichen Schule in Japan einem Orchester beitreten möchte, das für eine Willkommenszeremonie für die Neuankömmlinge an der Schule Beethovens „Ode an die Freude“ aufführen will. Der Druck, der auf den sehr jungen Musikern lastet, der Frust, wenn nicht alles sofort gelingt und die überschäumende Freude bei der Aufführung, gehen einem sofort ans Herz.

Sollte gewinnen: INCIDENT, der formal wie inhaltlich radikalste Film unter den hier Nominierten. Bill Morrison hat dafür ausschließlich Aufnahmen von Bodycams und Securitykameras zusammengeschnitten, dem Ganzen keine emotionalisierende Musik oder erklärende Off Kommentare unterlegt. Die Collage an Aufnahmen – zum Teil im Splitscreen präsentiert – spricht für sich und ist in jeder Beziehung erschütternd. Der Film zeigt einen mutmaßlich alltäglichen Vorfall, wie er in den USA jederzeit jeden Afroamerikaner treffen kann. Die Polizei erschießt 2018 in Chicago ohne jede Vorwarnung und ohne Grund einen Passanten und versucht, sich hinterher mit einer vermeintlichen Gefahrenlage zu rechtfertigen. Die im Film gezeigten Ereignisse stehen im klaren Widerspruch zu den Aussagen der Polizeibeamten.

Außerdem nominiert: eher tough geht es auch in den beiden verbliebenen Nominierten zu. In DEATH BY NUMBERS konfrontiert die Überlebende eines Schoolshootings den Täter und in I AM READY, WARDEN bereitet sich ein zum Tode Verurteilter darauf vor, sich von seiner Familie zu verabschieden und möchte auch noch einmal Kontakt zum Sohn seines Opfers aufnehmen.

II. Dokumentarfilm

NO OTHER LAND © Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham, Rachel Szor
Wird trotz Hype vermutlich leer ausgehen: NO OTHER LAND © Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham, Rachel Szor

Eine starke Gruppe von Nominierten konkurriert hier. Doch der Topkandidat könnte leer ausgehen und ausgerechnet der schwächste Beitrag am Ende gewinnen.

Wird gewinnen: PORCELAIN WAR, in dem drei ukrainische Künstler dem russischen Dauerbombardement trotzen und weiterhin ihre kleinen Porzelanfiguren schaffen. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine war schon der wesentliche Treiber hinter den letzten beiden Gewinnern in dieser Kategorie: NAVALNY (2022) und 20 DAYS IN MARIUPOL (2023). Im Zweifelsfall ist eine Dokumentation über die kriegsgeplante Ukraine immer noch für eine Auszeichnung gut. Und nur weil die vier Ko-Nominierten interessanter sind, ist PORCELAIN WAR ja kein schlechter Film. Er ist der wahrscheinlichste Gewinner, da die meisten Precursor Awards an den populären SUPER/MAN: THE CHRISTOPHER REEVE STORY gingen, der es aber nicht auf die Oscar Shortlist geschafft hat und PORCELAIN WAR immerhin den PGA gewann.

Sollte gewinnen: Mitden meisten Kritikerpreise wurde allerdings der letztjährige Berlinale-Beitrag NO OTHER LAND ausgezeichnet, in dem ein israelischer Journalist (Yuval Abraham) und ein mit ihm befreundeter palästinensischer Blogger (Basel Adra) die letztlich sinnlose Zerstörung eines Dorfes im Westjordanland dokumentieren. Der Film schildert eine unerträgliche Ungerechtigkeit und ist zugleich Dokument einer unwahrscheinlichen Freundschaft. NO OTHER LAND wurde von vielen Kritikern weltweit und vor allem in USA als wichtigster Dokumentarfilm des Jahres bezeichnet. Mehr Aktualität ist angesichts der ausgesprochen schwierigen Lage im Nahostkonflikt kaum möglich. NO OTHER LAND übt zwar massive und auch berechtigte Kritik am Vorgehen des israelischen Militärs und der israelischen Behörden. Er ist aber zu keinem Zeitpunkt antiisraelisch oder gar antisemitisch. Die Filmemacher wollen mit ihrem Werk vor allem Aufmerksamkeit schaffen und zugleich zeigen, dass Verständigung zwischen den scheinbar unversöhnlich gegenüberstehenden Parteien durchaus möglich ist.

NO OTHER LAND wird vor allem deshalb Probleme haben, den Oscar zu gewinnen, weil er in den USA praktisch unsichtbar ist. Bis heute und trotz all der Auszeichnungen hat NO OTHER LAND keinen US-Verleih und kann dort daher nicht im Kino gesehen werden. Für die Academy ist dies freilich dennoch möglich, über Sondervorführungen und Screener. Doch scheint es auch unter den Academy Mitgliedern Vorbehalte gegen einen Film zu geben, der die israelische Politik kritisiert, auch wenn NO OTHER LAND eigentlich ein Dokument der Zusammenarbeit über angeblich unüberwindbare Gräben hinweg ist.

Auch BFF-Autor Henning Koch konnte NO OTHER LAND, der 2024 bei der Berlinale als Bester Dokumentarfilm prämiert wurde, viel abgewinnen. Hier ist seine Kritik.

Außerdem nominiert: auch die anderen drei nominierten Filme haben es in sich und wären allesamt würde Gewinner dieser Kategorie. In BLACK BOX DIARIES verarbeitet die japanische Journalistin Shiori Itō ihre Vergewaltigung und hat damit immerhin erreicht, dass die japanische Regierung eine Strafrechtsreform angekündigt hat.

SOUNDTRACK TO A COUP D’ETAT ist eine aufregende Lektion über die fragwürdige Rolle der westlichen Politik im sich befreienden Kongo zu Beginn der 1960er Jahre, als das Land zum Spielball konkurrierender Geheimdienste und Militärs wurde und schließlich in einen jahrzehntelangen Bürgerkrieg abrutschte. Gleichzeitig versuchten afroamerikanische Musiker die Befreiungsbewegung zu unterstützen. Der Film von Johan Grimonprez ist ein faszinierender Mix aus Politik- und Jazzdoku.

SUGARCANE schließlich ist ein aufwühlender Bericht über den Missbrauchsskandal der Katholischen Kirche in Kanada, das Verschwinden von zahlreichen indigenen Kindern und die unheilvolle Rolle, die ein Zuckerrohrreservat in der ganzen Geschichte gespielt hat. Regisseur Julian Brave NoiseCat ist die erste indigene Person, die für diesen Oscar nominiert ist.

III. Animierter Spielfilm

THE WILD ROBOT © 2024 DreamWorks Animation. All Rights Reserved.
Ein sicherer Oscar-Kandidat: THE WILD ROBOT © 2024 DreamWorks Animation. All Rights Reserved.

Wird gewinnen: THE WILD ROBOT, für den DreamWorks nach langer Zeit mal wieder den Oscar gewinnen könnte, erzählt von einem Roboter, der auf einer verlassenen Insel strandet und dort überraschend eine Mutterrolle übernehmen muss. Visuell stellt der Film mit seiner streckenweise an Aquarelle erinnernden Ästhetik eine Abkehr von der glasklaren Optik früherer 3D-CGI Animationen dar. THE WILD ROBOT gewann zahlreiche Preise im Vorfeld, u.a. CCA, PGA und neun Auszeichnungen bei den auf Animationen spezialisierten Annie Awards. Regisseur Chris Sanders ist nach LILO & STICH (2002), HOW TO TRAIN YOUR DRAGON (2010) und THE CROODS (2013) bereits zum vierten Mal in dieser Kategorie nominiert und teilt sich diesen Rekord nun mit Pixar-Mastermind Pete Docter und der Studio Ghibli-Legende Hayao Miyazaki. Im Unterschied zu Docter (3) und Miyazaki (2) hat Sanders noch keinen Oscar gewonnen. Das könnte sich in diesem Jahr ändern. Für DreamWorks wäre es der erste Oscar in dieser Kategorie seit SHREK (2001), dem ersten Oscargewinner überhaupt für Bester Animierter Spielfilm.

Sollte gewinnen: Doch mit dem lettischen Beitrag FLOW gibt es starke Konkurrenz. Der kommt komplett ohne Dialoge aus und zeigt ein Katze, die gemeinsam mit einigen anderen Tieren versucht auf einem Boot eine Umweltkatastrophe zu überleben. Anders als in anderen animierten Filmen mit tierischem Personal können die Protagonisten von Flow nicht sprechen und benehmen sich auch sonst größtenteils artgerecht. Das Ergebnis ist ein verblüffendes und berührendes Abenteuer, das Gints Zilbalodis komplett über das Open Source-Programm Blender animiert hat, einer Technik also, die im Grunde genommen jeder angehende Filmemacher verwenden kann. Faszinierend an FLOW ist die „Kameraarbeit“, die immer den Eindruck vermittelt, mit einer Steadycam ganz nah am Geschehen zu sein – eine unmittelbare Ästhetik, die sich stark von gängigen Hollywood-Produktionen unterscheidet.

Außerdem nominiert: INSIDE OUT 2, der erneut das Gefühlsleben der jungen Riley, der Heldin des oscargekrönten ersten Films von 2015, beleuchtet. Riley ist inzwischen in ihre pubertäre Phase getreten, wodurch neue Gefühle wie Neid, Langeweile und Peinlichkeit, vor allem aber Angst die Herrschaft übernehmen. INSIDE OUT 2 erreicht nicht die Originalität des exzellenten ersten Teils, ist aber immer noch ausgesprochen unterhaltsam und hält im Großen und Ganzen das Niveau eines (sehr) guten Pixar-Films. Mit 1,5 Milliarden $ Einspiel ist INSIDE OUT 2 der erfolgreichste Film des Jahres 2024 und auch der bislang erfolgreichste animierte Spielfilm überhaupt. Gemessen daran wäre ein Oscar für diesen Film durchaus auch denkbar.

MEMOIR OF A SNAIL von Adam Elliot (HARVIE KRUMPET, 2003 – Oscar für Animierter Kurzfilm) erzählt die traurigen Erinnerungen einer einsamen, melancholischen Frau mit einer großen Liebe für Schnecken. Der Stop Motion-Film behandelt komplexe und schwierige Themen und richtet sich in erster Linie an ein erwachsenes Publikum. Wie Elliots Klassiker MARY & MAX (2009) besticht auch MEMOIR OF A SNAIL mit liebevoller und detailreicher Animation.

Der bei den Oscars erfolgreichste Stop Motion-Animateur ist aber immer noch Nick Park und sein Aardman Animations Studio. Bereits vier Oscars konnte Park gewinnen: dreimal für die animierten Kurzfilme CREATURE COMFORTS (1990), THE WRONG TROUSERS (1993), A CLOSE SHAVE (1995) und den ersten Wallace & Gromit Langfilm THE CURSE OF THE WERE-RABBIT (2005). Auch mit dem zweiten abendfüllenden Abenteuer des beliebten Duos, WALLACE & GROMIT: VENGEANCE MOST FOWL, ist Park wieder im Rennen und konnte dafür schon den BAFTA gewinnen. Für den Oscar wird es aber diesmal angesichts der starken Konkurrenz wohl nicht reichen.

Thomas Heil schaut seit 1992 die Oscars – und stellt jedes Jahr seine Favoriten zusammen. Seine Lieblingsfilme haben es oft nicht auf die Liste geschafft, aber darum geht es ja auch nicht, denn Film ist Kunst und kein Wettbewerb, wie man auch über Sinn und Unsinn solcher Preisverleihungen streiten kann. Nur soviel: man sollte sie gewiss nicht zu ernst nehmen.

In Teil #2 wird es um die Awards in den technischen Kategorien gehen.