DOK Leipzig 2025: Puls nehmen. An den Halsschlagadern der Amerikas.


© DOK Leipzig / THE LAST BUFFALO HUNT, Lee Anne Schmitt
© DOK Leipzig / THE LAST BUFFALO HUNT, Lee Anne Schmitt

Starke dokumentarische Positionen zum nordamerikanischen Status Quo bei der 68. DOK Leipzig (27.10.-2.11.), von größtenteils weiblichen Filmemacherinnen.

Bei dem kolossalen Tempo, das Trump und seine Schergen beim Umbau Amerikas in eine Diktatur walten lassen, wünscht man auf Festivals schon jetzt den filmischen Widerstand. An dem unlängst gewerkelt wird, aber, so ist das mit dem Film: 365 Amtstage entsprechen selten der Produktionszeit an filmischen Studien, Manifesten, Essays… Die DOK Leipzig setzte diesem Warten in den Kinosälen etwas entgegen: Die Retrospektive, sprich: Einen Blick in die noch-nicht-lange-vergangene Vergangenheit, als Korrektiv, Ergänzung, Blaupause für die Gegenwart, und zwar in Form einer Hommage an die amerikanische Indie-Dokumentarfilmerin Lee Anne Schmitt.

Lee Anne Schmitts Filme beginnen immer mit dem essayistischen Zugang – dem persönlichen, in den letzten Jahren auch wieder vordergründiger formulierten – und mit dem filmischen Material, zumeist 16mm. Im Fokus steht die Brüchigkeit amerikanischer Identität(en), ganz gleich, ob es um die amerikanische Geisterstadt geht, die einst florierende Arbeitermetropole war (CALIFORNIA COMPANY TOWN), die Ursprünge rassistischer Polizeigewalt (PURGE THIS TOWN) oder auch Einflussnahme von unternehmensnahen, ultrakonservativen Stiftungen auf die US-Politik (am Beispiel der Firma ihres eigenen Vaters, in EVIDENCE) (siehe auch Berlinale-Empfehlungen 2025).

© DOK Leipzig 2025 / EVIDENCE, Lee Anne Schmitt
© DOK Leipzig 2025 / EVIDENCE, Lee Anne Schmitt

Als besonders spannend und schwer auszuhalten, erwies sich hier THE LAST BUFFALO HUNT über eine der letzten und dort extra angesiedelten Büffelherden in den Henry Mountains in Utah, und die sich als Cowboys gerierenden Tour Guides, die vorrangig anderen reichen Amerikaner*innen eine „echtes“ Büffel-Verenden-Lassen, -Häuten und -Zerteilen ermöglichen. Lee Anne Schmitts Kamera fängt die Erhabenheit der Landschaft, die Tristesse des Alltags und die Schönheit der Tiere in stilllebenhaften Aufnahmen ein, grausame Jagdszenen inklusive. Zwischendrin immer die müden, dreckigen Männer, von den Posterboys amerikanischer Popkultur meilenweit entfernt, aber vermutlich immer noch einen Freiheitstraum träumend, der längst nicht mehr existiert oder vielleicht immer nur ein exklusives Versprechen für wenige weiße Menschen war. Und die trotzdem nicht nur die blutrünstigen Bösewichte sind, wie auch Lee Anne Schmitt im Publikumsgespräch verdeutlicht, die sie über mehrere Jahre begleitete: Die Europäer*innen haben durch die Fast-Ausrottung des nativen Büffels (die mit der Enteignung und Entrechtung indigener Stämme einherging) sowie die neuerliche Ansiedlung der Touri-Büffel das Ökosystem durcheinandergewirbelt: Die Tiere reproduzieren sich ohne natürliche Feinde (Wölfe und Grizzly Bären hat der Mensch ja auch auf dem Gewissen) zu stark für die Region, in der sie leben.

Wie sie es ausgehalten habe, mit den Jägern und ihren schrecklichen Kund*innen umherzuziehen, die zudem eventuell und wahrscheinlich MAGA-Anhänger sind, fragt jemand aus dem Publikum. Ganz so, als könne man als Dokumentarfilmer*in nur Zeit mit Menschen verbringen, mit denen man befreundet ist und die Bubble teilt. Es ist die Qualität von THE LAST BUFFALO HUNT, das Lee Anne Schmitt ihre eigenen politischen Meinungen nicht zum Filmthema macht, sondern zeigt, dass es diese Menschen außerhalb der eigenen Comfort Zone gibt, und auch, was sie bewegt.

Ganz anders und radikal empathisch verbunden mit ihrem Subjekt: CONBODY VS EVERYBODY von Debra Granik (Regisseurin von WINTER’S BONE), einer fünfeinhalbstündigen Langzeitstudie über den ehemaligen Häftling Coss und sein Fitnessstudio „Conbody“, das seinen Mitgliedern gestählte Körper mit Eigengewicht gemäß dem englischen Idiom „do the time“ verspricht. Das ist so nötig wie zeitgemäß: Laut katapult-Studie sitzen in den USA 16% aller Häftlinge weltweit ein, was zum Teil der rigiden Drogenpolitik und der in vielen Bundesstaaten geltenden Three-Strike-Policy geschuldet ist.

© DOK Leipzig 2025 / CONBODY VS EVERYBODY, Debra Granik
© DOK Leipzig 2025 / CONBODY VS EVERYBODY, Debra Granik

Als Fünfteiler von Netflix America gekauft und gestreamt, zeichnet der Film in voller Länge über acht Jahre die Entwicklung des Fitnessstudios nebst Ablegern, Coss‘ eigene Familien- und Beziehungsgeschichte sowie die seiner Trainer*innen, alle ebenfalls Ex-Häftlinge, nach. Besonders die ersten zwei Stunden entwickelt CONBODY eine krasse Spannung und Vitalität, in der die Zuschauer*innen zu Cheerleader*innen werden, dem äußerst attraktiven Coss und seinem auch zivilgesellschaftlichen Engagement alle Daumen drücken. Das liegt auch an den anderen charismatischen Ex-Häftlingen, die sich alle sichtbar bemühen, wieder in die Gesellschaft zurückzufinden. Das ist aber oft genau das Problem: Denn potenzielle Arbeitgeber*innen sortieren schnell aus, wenn sie eine Haftstrafe im Backgroundcheck bemerken, Bewährungshelfer*innen sanktionieren auch arbeitswillige Kandidat*innen auf Bewährung, wenn sie jenseits der Stadtgrenze arbeiten. Das – und natürlich auch viele persönliche Gründe, sprich: psychische Probleme, Substanz-Abhängigkeiten oder schlicht neuerliche Straftaten – führen zu einer unglaublichen hohen Rückfallquote: Rund 68% der Sträflinge wandern wieder in den Bau, der Anteil der Schwarzen, Indigenen sowie Hispano- und Lateinamerikanischen Bevölkerung ist dabei überdurchschnittlich hoch.

CONBODY VS EVERYBODY zeigt die strukturellen Missstände, die zu den hohen Raten beitragen, beziehungsweise dazu führen, dass Menschen überhaupt ins Gefängnis kommen – und verknüpft dabei die persönlichen Schicksale auch mit den politischen Entwicklungen im Land; der Mord an George Floyd und die Polizeigewalt sind große Themen. Der Cheerleading-Effekt lässt irgendwann trotzdem nach, weil die kritische Distanz zu den Persönlichkeiten ausbleibt. Bei Coss wissen wir wenigstens, warum er einsaß: Immer wieder im Knast, seit er 13 war, war er mit 23 Jahren Chef eines Drogenkartells und verdiente zwei Millionen im Jahr (das klingt leider auch schon fast cineastisch; die Opfer können ja nicht ermittelt werden). Bei anderen Ex-Häftlingen bleiben die Strafen diffus: Bisschen dies und das, bisschen Körperverletzung etc. Das ist vermutlich strategisch sogar klug entschieden, wenn man dem Argument, dass jeder Mensch eine zweite Chance verdient, stattgeben und niemanden durch allzu drastische Straftatenregister vergraulen möchte, aber es fühlt sich doch etwas beschönigend an; ebenso die Gefängnisromantik, die Conbody mit seinem Konzept (Gefängnistürengitter etc.) zwar ironisiert, aber doch am Leben hält. Schade ist auch – aber leider im Rahmen solcher Langzeitdokus nicht unüblich – dass manche Charaktere irgendwann einfach sang-und klanglos verschwinden (ein paar Trainer*innen sowie Coss‘ sehr engagierte Ex-Freundin). Shane, der mit Coss einsaß, landet auf der Straße und ist zurück im Heroinstrudel. Er sagt, er ziehe die Straße den ihn zu sehr an Gefängnissen erinnernden Obdachlosenheimen vor.  Am Ende des Films wissen wir nicht, ob er überhaupt noch lebt, oder ob er – wie Michael K Williams, der in The Wire mit Omar einen der komplexesten TV-Charaktere überhaupt verkörperte, und in einer kurzen Szene einer Paneldiskussion mit Coss beiwohnt – der Drogenepidemie zum Opfer gefallen ist, die auch Coss vor seiner Haftstrafe am Laufen hielt.

© DOK Leipzig 2025 / NATCHEZ, Noah Collier
© DOK Leipzig 2025 / NATCHEZ, Noah Collier

Rassismus und Geschichtsrevisionismus – das sind die unbequemen Kernthemen des klug inszenierten und teuer produzierten NATCHEZ von Suzannah Herbert. Natchez war Mitte des 19. Jahrhunderts eine der Metropolen der Baumwollindustrie, und die zweitwichtigste Stadt für den Sklav*innenhandel. Noch heute pilgern viele Tourist*innen in die Stadt, aber vornehmlich, um die schön erhaltenen neoklassizistischen Häuser aus der Antebellum-Ära zu sehen. Die Touren werden teilweise von selbst titulierten Southern Belles in Reifröcken durchgeführt, die dauerlächelnd auf die großartigen Kronenleuchter und die überhaupt großartige Familientradition hinweisen (hier hat sich Herbert für eine flirrende, verträumte Ästhetik entschieden – die Bilder wirken absichtlich wie schlechte Werbung). Ihr „hier ist noch die Welt in Ordnung“-Idyll wird vom Schwarzen Pastor Tracey gestört, der „ergänzende“ Führungen anbietet, in denen es um die weniger erquickliche amerikanische Geschichte und mehr um die Ausbeutung Schwarzer Menschen und den Folgen für die Jetztzeit geht; ihm geht es um gesellschaftlich ausgleichende Reparationen und Gleichberechtigung. Er fährt mit seinen weißen Tourteilnehmer*innen unter anderem zum unscheinbar gelegenen Markt, an dem die Sklav*innen nach ihren Märschen von Stadt zu Stadt oder Staat zu Staat am Ende ihrer Kräfte mit Ketten um die Fesseln, Armgelenke und Hälse ankamen. Auch Debbie Cosey versteht sich als aktive Störerin der heilen Fassade: Sie hat ein ehemaliges Sklavenheim erworben, ist dem Pilgrimage Garden Club beigetreten, der die Frühlingstouren (Spring Pilgrimage) ausrichtet, und begibt sich bewundernswerterweise in einen von außen besehen aussichtslos wirkenden Dialog, in dem die weißen Hausbesitzer*innen nicht von Sklaven, sondern vom Dienstpersonal, von den wunderbaren Beziehungen Personal und Besitzern sowie anderen Fata Morganen sprechen. Zwischendrin der nie ganz in die Szene passende David Garner, ein offen homosexuell lebender Dandy, der trotz Parkinson weiter auf seinen süffisanten Führungen besteht, für die „politisch inkorrekt“ ein Euphemismus wäre. Ein großartig gemachter und bis ins Mark gehender Film.

© DOK Leipzig 2025 / HOLLER FOR SERVICE, Walnut+Schultz Prodcutions
© DOK Leipzig 2025 / HOLLER FOR SERVICE, Walnut+Schultz Prodcutions

Wo Herbert unbequeme amerikanische Wahrheiten offenlegt, und zeigt, dass Konfrontation für eine befriedete Gesellschaft immer nötig bleibt, geht HOLLER FOR SERVICE ganz und gar in die dialogische Umarmung, die mindestens genauso wichtig ist. Denn: Two things can be true at the same time. Kathrin Seward und Ole Elfenkaemper begleiten in ihrem Film Kellie, die einen Baumarkt in der 900-Seelen Gemeinde Lumpkin in Georgia betreibt. Sie ist aber, wie das oft gerade in ländlichen Gegenden so üblich ist, nicht nur die Anlaufstelle für Schrauben oder Wildfutter, sondern auch nebenberufliche Veterinärmedizinerin und auch Small- oder Deep-Talk-Partnerin; da geht es schon mal um die kaputte Hüfte oder darum, für eine Stammkundin was auszudrucken für den Notar (..: „ich kann auch beglaubigen, ich hab dafür ein Zertifikat“). Im Grunde ist sie sieben die Tage die für ihre Kund*innen erreichbar, auch nach den Öffnungszeiten. Obwohl sie mit ihrer Partnerin einst in einer größeren Stadt in einer sehr glücklichen Beziehung lebte, und nun ganz solitär mit ihren Hunden über dem Laden wohnt, ist sie sich sicher, dass sie die richtige Entscheidung gefällt hat. Sie sei nun im Reinen mit sich, wisse, wer sie sei. Alleinleben in Kombination mit einem gesellschaftlichen Gebrauchtwerden als Identitätsstiftung. Ob sie denn nicht als queere Person in den Südstaaten eine besondere Rolle einnehme beziehungsweise wie sie damit umgehe, wollte jemand im Q&A wissen, ganz so, als müsste diese Facette der Identität jeden Lebensaspekt prägen. Kellie hält es mit dem Film, der sie ohnehin im ständigen Dialog zeigt, eine absolut in sich ruhende Person, die sich durch Zugewandtheit Augenhöhe mit allen Kund*innen – POC oder weiß, konservativ oder liberal – erarbeitet. Sie thematisiere ihr Queersein nicht ständig, aber sie spreche mit den Leuten darüber, die ihr wichtig sind, sagt sie, und sie verberge ihr Begehren nicht. HOLLER FOR SERVICE zeigt: Und auch in solchen leisen Konstellationen kann ein Austausch über die Polarisierungen hinweg entstehen, zumindest im Kleinen. Es ist ein winziger Hoffnungskeim in Trumpschen Zeiten voll Aggression und Ausschluss.