18. filmPOLSKA: PISKLAKI/FLEDGLINGS von Lidia Duda
Dokumentarfilme über den Schulalltag sind ein ebenso herausforderndes wie dankbares Sujet. Tendenziell werden sie zu besonders erfolgreichen Kinoerlebnissen, wenn sie nicht an „ganz normalen“ Schulen entstehen, also nicht dort, wo das Klischeebild eines vor allem defizitären Bildungssystems seine Ursache haben dürfte. Ungewöhnliche Schulformen und Lehrkräfte sind entsprechend im Zentrum von SEIN UND HABEN oder HERR BACHMANN UND SEINE KLASSE. Auch PISKLAKI (KÜKEN) von Lidia Duda macht da keine Ausnahme und hebt sich doch auf besondere Weise von den zuvor genannten Filmen ab. Hier wird der Alltag in einer Schule für Blinde und Sehbehinderte gezeigt, in dem polnischen Dorf Laski, bei Warschau. Der Fokus liegt auf drei Kindern aus der ersten Klasse. Die Erwachsene erscheinen, wenn überhaupt, nur am Rand.
Für Zosia, Oskar und Kinga steht ein harter Einschnitt am Anfang. Mit ihrem Wechsel vom Kindergarten in die Schule ist zugleich die Trennung von ihren Familien verbunden. Sie kommen ins Internat, in ungewohnte Räume und in die Obhut fremder Erwachsener. Der Film folgt der Eingewöhnung, zeigt Angst und Neugier, verzeichnet Lernfortschritte und konzentriert sich ansonsten auf die Beziehung der drei Kinder zueinander. Vor allem zwischen der zierlichen, lebhaften Zosia und dem eher in sich gekehrten Oskar entsteht eine enge Freundschaft. Mit ihren großen, weit geöffneten Augen wirkt sie eher extrovertiert und lässt ihren Gefühlen freien Lauf. Er hält den Kopf meist gesenkt und sagt nicht viel. Kinga trägt eine Brille mit dicken Gläsern und geht den beiden anderen oft fürsorglich zur Hand, sei es an der Braille-Schreibmaschine oder wenn sie sich im Klassenzimmer verlaufen haben.
Dabei ist das Bild in einem eher weichen Schwarzweiß gehalten. Die Kamera von Wojciech Staroń und Zuzanna Zachara-Hassairi kommt den Kindern sehr nahe und löst sich nur selten von den Gesichtern. Das führt zu großer Intensität und erinnert manchmal an die semi-dokumentarischen Spielfilme von Dorota Kędzierzawska. Zum einen, weil jene oft mit Kindern gearbeitet hat und für ihren schönsten Film WRONY (KRÄHEN) auch auf eine Kindheitsmetapher aus dem Vogelreich zurückgriff. Zum anderen aber auch, weil die zärtliche Melancholie von Kędzierzawkas Geschichten manchmal vom maximal „schön“ gesetzten Licht ihrer Filme geradezu konterkariert wird.
Bei PISKLAKI stellt sich zudem die Frage, ob die – zumindest dem Programmheft nach – intendierte „Augenhöhe“ zu den Kindern durch die Konzentration auf ihre Gesichter wirklich erfüllt wird und inwieweit die adaptierende Annäherung an deren Sehbehinderung durch die gewählte Schwarzweiß-Ästhetik sinnvoll ist. Positiv gesagt: Indem Regisseurin Duda z.B. Großaufnahmen von Händen und Fingern äußerst sparsam einsetzt, fordert sie dazu heraus, den Begriff Augenhöhe komplexer als nur wortwörtlich zu verstehen. In manchen Belangen ist PISKLAKI also als ein durchaus streitbares Beispiel für eine ambitionierte Gestaltung, die Gefahr läuft, sich dem eigentlichen Anliegen eines Films zu widersetzen. Andererseits dringt in die spezielle Blase der hier gezeigten Welt so wenig vom Außen, auch nichts von den älteren Jahrgängen der Schule, dass diese knappen eineinhalb Stunden zu einem fast immersiven Erlebnis werden, auch zur Jagd nach Zwischentönen. Bald nach einer Szene mit einer unterrichtenden Nonne, die den Kindern ein frommes Bewegunglied beibringen will, stöhnt eines in einer folgenden Stunde auf: „Jesus!“ Der Lehrer aus dem Off kommentiert: „Lasst uns Jesus für Euren Religionsunterricht aufsparen“. Auffällig auch: wenn Schriftzüge die Shirts und Pullovern Schriftzüge zieren, sind sie ganz selbstverständlich in Englisch gehalten. „Fast Food“ ist da zu lesen, „Learn and have fun“ oder „Natural Kids“. Letzteres steht ausgerechnet auf dem Pullover einer Babypuppe.
Im Abspann gibt es dann noch den Hinweis auf die Audiodeskription zu PISKLAKI – auch in Polen ist eine Hörfilmfassung für Blinde und Sehbehinderte bei öffentlich (vom Filminstitut) geförderten Projekten obligatorisch. Wäre schön, wenn einige Audiodeskriptionen auch auch auf dem filmPOLSKA zugänglich gemacht werden könnten.
PISKLAKI/FLEDGLINGS, Regie: Lidia Duda, Polen 2022, 84 min.
Läuft auf dem filmPOLSKA im Panorama: Nahaufnahmen
10.09.23 um 18.00 Uhr im Sputnik und am
11.09.23 um 19.00 Uhr im City-Kino Wedding