43. Filmfestival Max Ophüls Preis: DIE KUNST DER STILLE von Maurizius Staerkle Drux
Unsagbares ausdrücken
In unserer reizüberfluteten Welt wirkt die alte und auf Gestik und Mimik reduzierte Kunst der Pantomime wie aus der Zeit gefallen. Marcel Marceau, der Pantomime mit dem weiß geschminkten Gesicht und dem ausgebeulten grauen Hut, an dem eine rote Blume steckte, war weltberühmt – doch die tragische Familiengeschichte des Mimen ist vielen unbekannt. Der Schweizer Regisseur Maurizius Starkle Drux widmet sich ihr nun in seinem Dokumentarfilm DIE KUNST DER STILLE, den er auf dem 43. Filmfestival Max Ophüls Preis präsentierte.
Marcel Marceau, gebürtig Marcel Mangel, kommt aus einer jüdischen Familie aus Straßburg. Sein Vater stammte aus Polen, die Mutter aus der Ukraine. In Straßburg betrieb sein Vater Karl bzw. Charles Mangel die koschere Metzgerei Mangel und gab als Opernliebhaber nebenher Konzerte in seinem Laden. 1944 wurde Mangel nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Sein Sohn Marcel Mangel gab sich während des Krieges selbst den französischer und unauffälliger klingenden Nachnamen Marceau und half unter diesem Namen gemeinsam mit seinem Cousin mehrmals dabei, jüdische Kinder in die Schweiz zu bringen, um sie vor den Nazis zu retten. Nach dem Krieg behielt er den Namen Marceau bei – als Erinnerung an den Widerstand gegen die Nazis.
In seinem Dokumentarfilm DIE KUNST DER STILLE stellt Regisseur Maurizius Staerkle Drux die Familie Marceau in den Mittelpunkt. Marcel Marceaus Frau Anne Sicco und die Töchter Aurélia und Camille Marceau kommen im Film ausführlich zu Wort und erinnern sich an den Pazifisten Marcel Marceau, der schon als Kind Buster Keaton und Charlie Chaplin verehrte und im Alter Angst hatte, die Kunst der Pantomime könne aussterben. Die Regisseurin, Dramaturgin und Theaterpädagogin Anne Sicco betreibt ein Kulturzentrum, in dem sie Aufführungen und Hommagen veranstaltet und damit die Erinnerung an Marcel Marceau und seine Kunst wachhält und für das Publikum erlebbar macht.
Neben Aurélia und Camille Marceau bildet Marcel Marceaus Enkel Louis Chevalier den Dreh- und Angelpunkt des berührenden Dokumentarfilms. Chevalier, der seinen Großvater Marcel Marceau im Alter von fünf Jahren verlor, studiert Tanz in Toulouse und tritt im Kulturzentrum der Familie auch als Pantomime auf. Maurizius Starkle Drux stellt die Lebenswege von Marcel Marceau und Louis Chevalier nebeneinander und schneidet aus Archivmaterial und neu gedrehten Sequenzen fließend ineinander übergehende Szenen zusammen, in denen Großvater und Enkel sich an denselben Orten aufhalten oder ähnliche Bewegungen ausführen. So verwischen die Grenzen zwischen Pantomime und Tanz, Großvater und Enkel, Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und Zukunft.
Einen weiteren persönlichen und familiären Rahmen bekommt der anrührende, poetische Dokumentarfilm durch Interviews mit dem gehörlosen Vater des Regisseurs, Christoph Staerkle, der auch als Pantomime auf der Bühne steht und im Film beschreibt, was Marcel Marceau und die Kunst der Pantomime ihm bedeuten. In DIE KUNST DER STILLE zeigt Maurizius Staerkle Drux auf, wie die Pantomime als Kunstform dabei helfen kann, Unsagbares auszudrücken und Kraft zu schöpfen – ob anhand seines Vaters, des gehörlosen Pantomimen, oder am Beispiel des großartigen Marcel Marceau, dem seine Kunst dabei half, trotz des Grauens weiterzuleben, das die Nazis seiner Familie während des Zweiten Weltkriegs antaten.
Stefanie Borowsky
DIE KUNST DER STILLE, Regie: Maurizius Staerkle Drux. Mit: Louis Chevalier, Georges Loinger, Daniel Loinger, Aurélia Marceau, Camille Marceau, Rob Mermin, Anne Sicco, Christoph Staerkle.
Verfügbar bis 30. Januar 2022 als Stream auf der Website des Filmfestivals Max Ophüls Preis.